Rivesaltes, Internierungslager

Ausgrenzung, Internierung und Deportation französischer Sinti und Roma
  • Teilansicht des Lagergeländes (Foto: USHMM 32266, USHMM/Friedel Bohny-Reiter)
  • Baracken und Lagerstraße (Foto: USHMM 32269, USHMM/Friedel Bohny-Reiter)
  • Elsässische Sinti und Roma im Lager Rivesaltes (Foto: USHMM 32192, USHMM/Friedel Bohny-Reiter)

Kurzinformation

Ausgrenzung, Internierung und Deportation französischer Sinti und Roma

Geschichte des Lagers

Das InternierungslagerInternierungslager Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurden in den besetzten Staaten, z.B. in Frankreich, Internierungslager errichtet. Sinti und Roma wie auch die jüdische Bevölkerung wurden dorthin gebracht, um sie von der übrigen Bevölkerung zu isolieren. Die Lager mit menschenunwürdigen Lebensbedingungen wurden häufig zu Durchgangsstationen bei den Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager. Rivesaltes befand sich rund fünf Kilometer nördlich des Zentrums der gleichnamigen GemeindeKommune / Gemeinde Bezeichnung für die kleinste öffentliche Verwaltungseinheit in der Organisation eines Staates. im südfranzösischen Département Pyrénées-Orientales. Bereits 1923 wurde dort ein Areal zur Nutzung als militärisches Kasernen- und Übungsgelände ausgewiesen. Die Pläne zur Errichtung eines großen Kasernenkomplexes nahmen jedoch erst 1939 mit dem Bau des „Joffre-Lagers“ konkrete Formen an. Es war nach dem Befehlshaber der französischen Armee im Ersten Weltkrieg, Marschall Joseph Joffre, benannt worden und diente zunächst als Ausbildungs- und Durchgangskaserne für Wehrpflichtige und zur Stationierung von Kolonialtruppen.

Nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche WehrmachtWehrmacht Die Armee des nationalsozialistischen Deutschlands wurde seit 1935 als "Wehrmacht" bezeichnet. Mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht erfolgte ab 1935 der rasche Ausbau der Wehrmacht, in die neben dem Heer auch die Marine und die Luftwaffe eingegliedert waren. Oberster Befehlshaber der Wehrmacht war Hitler, die Befehls- und Kommandogewalt hatte der Reichskriegsminister. im Juni 1940 gehörte Rivesaltes zum unbesetzten Teil des Landes, in dem die mit dem Deutschen Reich zusammenarbeitende Vichy-RegierungVichy-Regierung Löste nach dem Überfall der Wehrmacht auf Frankreich ab Juli 1940 die Dritte Französische Republik ab und richtete ihren Sitz im Kurort Vichy in der Auvergne ein. Staatschef wurde Henri Philippe Pétain, ein gefeierter Kriegsheld aus dem Ersten Weltkrieg. Seiner Regierung unterstanden rund 40 Prozent des französischen Staatsgebiets („Südzone“) mitsamt den Kolonien sowie ein 100.000 Mann starkes Heer. Pétain führte ein autoritäres Regime, um durch Zusammenarbeit mit Deutschland möglichst viel Eigenständigkeit für Frankreich zu erhalten. Dazu gehörten u.a. eine massive Pressezensur, die Unterdrückung der politischen Opposition sowie die Ausgrenzung und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung und der Sinti und Roma. 1942 wirkten die Verwaltung und die Polizei mit bei den Deportationen nach Auschwitz. Im November 1942 besetzten deutsche Truppen die „Südzone“, so dass sich der Einfluss und die Handlungsmöglichkeiten der Vichy-Regierung deutlich verringerten. Nach der Landung der Alliierten brach die Regierung im August 1944 zusammen. Pétain wurde 1945 wegen Hoch- und Landesverrats zum Tod verurteilt, dann jedoch zu lebenslänglicher Haft begnadigt. das Sagen hatte. Auf ihre Anordnung hin wurden rund 600 Hektar des Militärgeländes in die Zuständigkeit des Innenministeriums übertragen. Zur Entlastung des durch die Aufnahme von spanischen Bürgerkriegsflüchtlingen überfüllten Lagers Gurs entstand dort ein Internierungslager. Offiziell wurde es als „Beherbergungszentrum“ bezeichnet und am 14. Januar 1941 eröffnet. Zunächst wurden dorthin spanische Bürgerkriegsflüchtlinge sowie Sinti und Roma gebracht. Im März folgten zwei Transporte mit aus dem Deutschen Reich stammenden jüdischen Familien aus dem Lager Gurs. Zwar stellten die Behörden das Lager als Vorzeigelager für Familien dar, doch die Lebensbedingungen waren auf der wüstenartigen Fläche im Sommer durch die massive Hitze und im Winter durch eisige Winde besonders schlecht. Für die im Mai 1941 rund 1.500 internierten Kinder wurden 17 Schulklassen eingerichtet. Insgesamt befanden sich zu diesem Zeitpunkt 6.475 Insassen mit mindestens 16 Nationalitäten im Lager. Mehr als die Hälfte waren Spanier, ausländische Juden repräsentierten ein Drittel und die Franzosen rund 20 % der Insassen.

Das Internierungslager Rivesaltes spielte schließlich eine zentrale Rolle bei der DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet. von Juden aus der „Südzone“ – dem Teil Frankreichs, der bis 1942 nicht besetzt wurde. Bereits im April 1941 fiel die Entscheidung, die internierten Juden von den anderen Insassen zu trennen. Nach dem Beginn der Razzien gegen die jüdische Bevölkerung in Südfrankreich im August 1942 fungierte ein Abschnitt des Lagers als Judensammellager. Bis November 1942 wurden dort mehr als 5.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder festgehalten. 2.300 von ihnen wurden schließlich in das Durchgangslager Drancy bei Paris gebracht und von dort nach Auschwitz deportiert. Das Rote Kreuz, der YMCA (Christlicher Verein Junger Menschen) und der CIMADE (Ökumenischer Dienst zur Unterstützung) konnten in Zusammenarbeit mit Paul Corazzi, einem Mitarbeiter in der Départementsverwaltung, die anderen vor der Deportation retten.

Nachdem im November 1942 auch die „Südzone“ besetzt worden war, bezogen deutsche Truppen das Militärlager Rivesaltes und lösten das Internierungslager am 24.November auf. Zuvor waren rund 1.000 Juden in das Lager Gurs und rund 300 Sinti und Roma in das Lager Saliers abtransportiert worden. Insgesamt wurden in Rivesaltes 17.443 Menschen gefangen gehalten.

Sinti und Roma im Lager Rivesaltes

Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Frankreich und der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 22. Juni 1940 wurde das Land in drei Bereiche aufgeteilt. Elsass und Lothringen wurden vom Deutschen Reich annektiertAnnexion Annexion ist vom lateinischen Wort „annectere“ abgeleitet, was „anknüpfen“ oder „anbinden“ bedeutet. Annektieren meint, etwas gewaltsam und widerrechtlich in seinen Besitz bringen, z.B. die gewaltsame und widerrechtliche Vereinnahmung eines fremden Gebiets durch einen Staat.. Während die deutsche Armee den Norden des Landes mit der Hauptstadt Paris sowie der französischen Kanal- und Atlantikküste bis hin zur spanischen Grenze besetzte (die „Nordzone“) wurde die verbleibende „Südzone“ der Vichy-Regierung unterstellt. Die Verfolgung der Sinti und Roma begann in der zweiten Hälfte des Jahres 1940 mit ihrer Zwangsvertreibung aus dem Elsass. Am 4. Oktober 1940 ordnete der Oberbefehlshaber des Heeres schließlich die zwangsweise „Überführung“ von Sinti und Roma in „Sammellager“ an.

Nachweislich wurden mindestens 1.334 Sinti und Roma nach Rivesaltes verschleppt. Rund 92 % von ihnen waren Franzosen, von denen die meisten aus dem Elsass stammten, wo sie im August 1940 von den Nationalsozialisten vertrieben worden waren. Männer und Frauen wurden in getrennten Baracken untergebracht, wobei Jungen bis zum Alter von 14 Jahren bei ihren Müttern verblieben. Es gab mindestens zwei Transporte zwischen Rivesaltes und dem Lager Le Barcarès an der französischen Mittelmeerküste. Am 23. Januar 1942 wurde eine Gruppe Sinti und Roma von Rivesaltes nach Le Barcarès transportiert und am 15. Juli 1942 wurden schließlich alle Sinti und Roma von dort nach Rivesaltes gebracht. Im Juli und August 1942 transportierte man 78 Männer aus Rivesaltes nach Saliers, wo sie Baracken für das dort neugegründete Lager aufbauen mussten. 21 von ihnen gelang dort die Flucht. 5 kehrten jedoch aus Sorge um ihre Familienangehörigen nach Rivesaltes zurück. Bei der Auflösung des Lagers Rivesaltes Ende November 1942 gelang 61 Sinti und Roma die Flucht während 299 von ihnen in das Lager Saliers transportiert wurden.

Wie alle Lagerinsassen war auch die Gruppe der Sinti und Roma schutzlos den schlechten Lebensbedingungen ausgesetzt. Das raue Klima wurde von Wetterextremen bestimmt: Im Sommer war es aufgrund der sengenden Hitze unerträglich – im Winter herrschte ein kalter und trockener Wind mit bis zu 120 Kilometern Geschwindigkeit pro Stunde, der oft Schäden an Fenstern und Dächern verursachte. Zudem waren die Baracken nicht beheizt. Die Ernährung war unzureichend und bestand aus Rüben, Kohl, Lauch, Brot und gelegentlich ein wenig Fleisch. Im Herbst 1941 litten die Insassen mit nur 1.100 oder 1.200 Kalorien pro Tag an Nährstoffmängel und Unterernährung.

Friedel Bohny-Reiter wurde als Krankenschwester von der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes in das Lager geschickt, um die Not der Kinder zu lindern. In ihrem Tagebuch schildert sie die Trostlosigkeit des Lagers und die menschenverachtenden Lebensbedingungen: „Um die Baracken jagt ein Wind. Unbarmherzig fegt er über das graue Barackendorf, das sich Hütte an Hütte aus eintönigem, steinigem Gelände erhebt. Und hier, in dieser Trostlosigkeit wohnen Menschen, wochen-, monatelang – in den allerprimitivsten Verhältnissen, ganz abgesehen von dem persönlichen Kummer der Angehörigen. Mit offenen und geschlossenen Augen – ich sehe nichts als große, hungrige Kinderaugen. […] Am meisten betrüben mich immer die Krankenbaracken. Wir können außer den Verteilungen so wenig helfen, und doch ist die Not so groß. Sie liegen in Überröcken, Pullovern, Hemden, die stehen vor Schmutz, in ihren Betten, oft ohne Leinentücher, auf schmutzigen Matratzen.“

Karitative Verbände versuchten, die Lage durch die Zusendung von Lebensmittelpaketen abzumildern. Ende des Jahres 1941 war ein Drittel der 5.000 Gefangenen krankhaft abgemagert und körperlich geschwächt. Hygienemängel trugen ihren Teil zur Verschlechterung der Lebensbedingungen bei. Die Abwasserkanalisation des Lagers wurde nie fertiggestellt, die sanitären Anlagen waren verschmutzt und das Stroh der Betten wurde nur unregelmäßig erneuert. Aufgrund der menschenunwürdigen Lebensbedingungen erkrankten viele der Insassen. Mindestens 273 von ihnen starben, darunter 34 Sinti und Roma. Dies entsprach einem Anteil von 12% der insgesamt im Lager internierten Angehörigen dieser Gruppe und stellte im Vergleich zu 8% Sterbefällen unter allen Lagerinsassen einen überdurchschnittlich hohen Wert dar.

Quellenangaben

Literatur
Camp de Rivesaltes. Tagebuch einer Schweizer Schwester in einem französischen Internierungslager 1941-1942/Friedel Bohny-Reiter, hrsg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 2021.
Camp de Rivesaltes (Pyrénées-Orientales), in: APRA (2006), http://www.apra.asso.fr/Camps/Fr/Camp-Rivesaltes.html am 20.10.2021.
Camp de Rivesaltes (Pyrénées-Orientales) 1939-1942, in: Mémorial des nomades de France, http://memorialdesnomadesdefrance.fr/camp-dhebergement-de-rivesaltes-pyrenees-orientales-1939-1942/ am 20.10.2021.
Camp Joffre à Rivesaltes durant la Seconde Guerre mondiale (WWII), in: AJPN (2009), http://www.ajpn.org/internement-Camp-Joffre-a-Rivesaltes-169.html am 20.10.2021.
Filhol, Emmanuel: Le contrôle des Tsiganes en France (1912-1969), Karthala 2013.
Lebourg, Nicolas: Le camp de Rivesaltes. Bilan et perspectives d’un lieu d’ostracisme (1939-2007), in: Les Annales du Midi. Revue archéologique, historique et philologique de la France méridionale (2011) Nr. 275, S. 409-424, https://www.persee.fr/doc/anami_0003-4398_2011_num_123_275_7374 am 20.10.2021.
Lebourg, Nicolas/Moumen, Abderahmen: Rivesaltes, camp de la France de 1939 à nos jours, Perpignan 2015.
Le camp de Rivesaltes, une mémoire plurielle. Des camps de Rivesaltes, in: Cercle d’étude de la Déportation et de la Shoah (2019), https://www.cercleshoah.org/spip.php?article754 am 20.10.2021.
L’histoire du Camp de Rivesaltes, in: Mémorial du camp de Rivesaltes, https://www.memorialcamprivesaltes.eu/lhistoire-du-camp-de-rivesaltes am 20.10.2021.
Peschanski, Denis: Les camps français d’internement (1938-1946), Doktorarbeit an der Universität Panthéon-Sorbonne, Paris 2000, https://tel.archives-ouvertes.fr/tel-00362523 am 20.10.2021.
Rivesaltes, in: Fondation pour la Mémoire de la Déportation, http://www.bddm.org/int/details.php?id=73212&display=0 am 20.10.2021.

Dokumente
Archives Nationales, Archives de l'Inspection générale des camps d'internement. Rapport 1 du 1er août 1942 d'André Jean-Faure à la suite de son inspection du 4 juin 1942, dossier 2c, F/7/15105, https://www.siv.archives-nationales.culture.gouv.fr/siv/rechercheconsultation/consultation/ir/consultationIR.action?irId=FRAN_IR_055943&udId=c-9bxam4um3-d43lvbss192d&details=true&gotoArchivesNums=false&auSeinIR=true am 20.10.2021.

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