Julius Strauß

"Wie ein Film kommt dann wieder alles vor mir. Und das ist das Furchtbare."
Julius Strauß mit seiner Schwester Wilhelmine (Privatbesitz/Archiv DokuZ)
Julius Strauß mit seiner Schwester Wilhelmine (Privatbesitz/Archiv DokuZ)

Julius Strauß wurde am 7. November 1922 in Hannover als ältester Sohn der Sinti Julius und Anna Maria Strauß (geb. Höllenreiner) geboren. Er hatte noch drei jüngere Brüder (Ewald, Adolf und Erich) sowie eine ältere Halbschwester, Wilhelmine. Sein Vater Julius Strauß senior arbeitete als Geigenhändler, seine Mutter verkaufte Klöppeldecken.

Zunächst lebte Julius Strauß mit seiner Familie in München, wo er auch eingeschult wurde. In seiner Kindheit zog die Familie aufgrund der Arbeit des Vaters mehrmals um, sodass Julius u.a. in Neuerding am Inn, Augsburg, Höchstadt an der Aisch und schließlich in Hersbruck, rund 30 Kilometer östlich von Nürnberg, wohnte und zur Schule ging. Insgesamt besuchte er acht Jahre lang die Volksschule und drei Jahre lang die Fortbildungsschule. Ab der achten Klasse ging er in Hersbruck zur Schule. Nachdem auch seine Großeltern aus München nach Hersbruck gezogen waren, blieben sie gemeinsam dort. Die Familie wohnte Im Eisenhüttlein 8, in einem Haus im historischen Stadtzentrum unweit des Marktplatzes.

Nationalsozialismus – Flucht nach Jugoslawien

Das friedliche Leben und die guten nachbarschaftlichen Beziehungen der Familie Strauß endeten mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Sie mussten die erniedrigende Begutachtung durch die „Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische ForschungsstelleRassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle Ende 1936 wurde in Berlin die „Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle“ (kurz: RHF) unter Leitung von Dr. Robert Ritter eingerichtet. Die „Forschungs­stelle“ sollte in enger Kooperation mit dem SS- und Polizeiapparat alle im Deutschen Reich lebenden Sinti und Roma erfassen und „rassenbiologisch“ klassifizieren. Ritter und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zwangen die Menschen, Auskunft über ihre Verwandtschaftsverhältnisse zu geben, und nahmen aufwendige Vermessungen an ihnen vor. Neben detaillierten Stammbaumtafeln wurden Tausende anthropologische Fotografien angefertigt. Zahllose Blut- und Haarproben wurden genommen. Die bis Kriegsende von Ritters Institut erstellten 24.000 Gutachten, die Menschen per „Rassendiagnose“ zu „Zigeunern“ oder „Zigeu­nermischlingen“ erklärten, bildeten die Grundlage für die Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager.“ (RHFRassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle Ende 1936 wurde in Berlin die „Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle“ (kurz: RHF) unter Leitung von Dr. Robert Ritter eingerichtet. Die „Forschungs­stelle“ sollte in enger Kooperation mit dem SS- und Polizeiapparat alle im Deutschen Reich lebenden Sinti und Roma erfassen und „rassenbiologisch“ klassifizieren. Ritter und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zwangen die Menschen, Auskunft über ihre Verwandtschaftsverhältnisse zu geben, und nahmen aufwendige Vermessungen an ihnen vor. Neben detaillierten Stammbaumtafeln wurden Tausende anthropologische Fotografien angefertigt. Zahllose Blut- und Haarproben wurden genommen. Die bis Kriegsende von Ritters Institut erstellten 24.000 Gutachten, die Menschen per „Rassendiagnose“ zu „Zigeunern“ oder „Zigeu­nermischlingen“ erklärten, bildeten die Grundlage für die Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager.) über sich ergehen lassen und wurden als „Zigeunermischlinge“ eingestuft. Der „FestsetzungserlassFestschreibungserlass Der Festschreibungserlass war eine Anordnung von Heinrich Himmler (dem Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei) vom 17. Oktober 1939. Darin wurde den Sinti und Roma verboten, ihren Wohn- und Aufenthaltsort ohne vorherige Genehmigung zu verlassen. Selbst für Besuche bei auswärtigen Verwandten mussten vorher Passierscheine beantragt werden, um sich nicht strafbar zu machen. Bei Zuwiderhandlungen drohten Verhaftung und Einweisung in ein Konzentrationslager.“ schränkte ab 1939 ihre Bewegungsfreiheit drastisch ein.

Die Brüder Erich, Adolf, Ewald und Julius Strauß (v.l.n.r.) im Jahr 1942 (Privatbesitz/Archiv DokuZ)

Aus Angst vor einer Verhaftung floh die Familie Strauß 1942 nach Jugoslawien. Julius Strauß erinnerte sich daran, dass es ihnen dort sehr gut ging. Es habe noch keine Lebensmittelrationierung gegeben und die Familie hätte genug Geld gehabt, weil seine Eltern gute Geschäftsleute gewesen seien. Sie lebten einige Zeit in Zagreb und konnten es sich leisten, in einer Gastwirtschaft zu wohnen und ein neues Auto zu kaufen.

Die anderen Sinti, mit denen Familie Strauß nach Zagreb geflohen war, setzten sich nach einiger Zeit ab, möglicherweise nach Rumänien. Familie Strauß blieb zurück. Obwohl der Vater Visa für die Türkei, ein zu diesem Zeitpunkt neutrales Land, auftreiben konnte, kehrte die Familie wegen des großen Heimwehs der Mutter noch 1942 wieder nach Hersbruck zurück. Dort lebte in ihrer ehemaligen Wohnung noch Wilhelmine, die Halbschwester von Julius.

ReichsarbeitsdienstReichsarbeitsdienst Der Reichsarbeitsdienst (RAD) wurde im Juni 1935 von den Nationalsozialisten gegründet. Fortan mussten männliche Jugendliche im Alter zwischen 18 und 25 Jahren vor ihrem Wehrdienst einen halbjährigen Arbeitsdienst ableisten. Für junge Frauen war dies zunächst freiwillig. Der RAD sollte junge Erwachsene im Sinne der NS-Ideologie und innerhalb einer militärähnlichen Struktur erziehen. Der NS-Staat stellte den Einsatz im RAD als „Ehrendienst“ an der „Volksgemeinschaft“ dar. Arbeitskolonnen des RAD waren an der Trockenlegung von Mooren, am Bau der Autobahnen und des Westwalls beteiligt – später auch zur Unterstützung der Wehrmacht in Bau- und Instandsetzungstruppen und an Flugabwehrgeschützen. Unmittelbar nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die Arbeitsdienstpflicht für weibliche Jugendliche eingeführt. Sie wurden als "Arbeitsmaiden" bezeichnet und mussten u.a. Mütter im Haushalt entlasten oder in der Landwirtschaft arbeiten.

Kurz nach der Rückkehr erhielt Julius Strauß eine Aufforderung, sich beim Reichsarbeitsdienst zu melden. Seine Eltern wirkten auf ihn ein, diesen abzuleisten. Sie hofften, dass die Familie dadurch möglicherweise von den Nationalsozialisten in Ruhe gelassen würde. Leider erfüllte sich diese Hoffnung nicht. Julius wurde, zusammen mit anderen jungen Männern, nach Russland und Polen zur Ableistung des Arbeitsdienstes geschickt. Dort mussten sie unter anderem Flugplätze anlegen und Landebahnen planieren oder Bäume fällen.

Julius Strauß spricht über die Verpflichtung zum Reichsarbeitsdienst und seine Verhaftung (Interview des Dokumentationszentrums mit Julius Strauß am 24.10.2005)

Kurz vor Weihnachten 1942 kehrte Julius wieder nach Hause zurück. Das friedliche Zusammensein mit seiner Familie währte jedoch nicht lange. Einige Tage nach seiner Rückkehr erhielt Julius den Befehl, sich zur Luftwaffe zu melden. Die Mutter hatte große Angst, ihren Sohn im Krieg zu verlieren. Deshalb sprach sie beim Wehrbezirkskommando vor und erklärte, dass sie eine Sinti Familie seien und ihr Sohn deshalb vom Dienst in der WehrmachtWehrmacht Die Armee des nationalsozialistischen Deutschlands wurde seit 1935 als "Wehrmacht" bezeichnet. Mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht erfolgte ab 1935 der rasche Ausbau der Wehrmacht, in die neben dem Heer auch die Marine und die Luftwaffe eingegliedert waren. Oberster Befehlshaber der Wehrmacht war Hitler, die Befehls- und Kommandogewalt hatte der Reichskriegsminister. ausgeschlossen sei. Julius wurde daraufhin zurückgestellt und musste keinen Wehrdienst ableisten. Er erklärte sich seine Einberufung später damit, dass die Behörden vor Ort nicht wussten oder übersehen hatten, dass er ein Sinto war. Spätestens jetzt hatten sie dies jedoch im Blick.

Verhaftung und DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet. nach Auschwitz-Birkenau

Wenig später begannen Ende Februar 1943 die Deportationen deutscher Sinti und Roma nach Auschwitz. Die Kriminalpolizeistelle Nürnberg-Fürth erteilte Anfang März 1943 der Schutzpolizeidienstabteilung in Hersbruck den Befehl, alle in Hersbruck ansässigen Sinti-Familien am 8. März festzunehmen. Danach sollte ihre Deportation nach Auschwitz-Birkenau erfolgen. Familie Strauß wurde am 8. März frühmorgens aus dem Schlaf gerissen und verhaftet. Nur Wilhelmine blieb verschont, weil ihr leiblicher Vater ein deutscher Soldat war. Julius, seine Eltern und die jüngeren Brüder wurden zunächst nach Nürnberg in das Polizeigefängnis transportiert. Von dort wurden sie unter Bewachung bis zum Deportationszug am Bahnhof gebracht. Dabei gelang es dem Vater Julius Strauß senior zu entkommen. Er floh nach Jugoslawien und blieb dort bis zum Kriegsende.

"Häftlingspersonalbogen" von Julius Strauß aus dem KZ Auschwitz-Birkenau mit (Foto: Arolsen Archives 501799)
„Häftlingspersonalbogen“ von Julius Strauß aus dem KZKonzentrationslager Konzentrationslager (kurz: KZ oder KL) waren das wichtigste Instrument der NS-Terrorherrschaft. Erste Lager entstanden schon im März 1933, kurz nach der Machtübernahme der NSDAP, anfangs noch in u.a. leeren Fabrikgebäuden, ehemaligen Gefängnissen und Kellergewölben. Bis Kriegsbeginn wurden sieben Konzentrationslager errichtet, bis Ende des Krieges waren es 22 Hauptlager mit weit über 1.000 Außenlagern und Außenkommandos. Alle, die von den Nationalsozialisten zu weltanschaulichen, religiösen und „rassischen“ Gegnerinnen und Gegnern erklärt worden waren, sollten dort inhaftiert werden. Darunter befanden sich vor allem Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Kommunisten, Sozialisten und andere politische Gegner. Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Haftbedingungen weiter und die Ermordung der Gefangenen wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Arbeitskraft der Häftlinge sollte bis zur völligen Erschöpfung oder bis zum Tod für die Kriegswirtschaft ausgenutzt werden. Die SS bezeichnete dies als "Vernichtung durch Arbeit". Auschwitz-Birkenau mit (Foto: Arolsen Archives 501799)
Seite aus dem erhaltenen Hauptbuch/Register des "Zigeunerlagers" im KZ Auschwitz-Birkenau mit dem Eintrag von Julius Strauss (Foto: Archiv Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau)
Seite aus dem erhaltenen Hauptbuch/Register des „Zigeunerlagers“ im KZ Auschwitz-Birkenau mit dem Eintrag von Julius Strauss (Foto: Archiv Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau)

Anna Maria Strauß wurde mit ihren vier Söhnen nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie am 18. März 1943 eintrafen. Nach der Registrierung wurden sie ins „Zigeunerfamilienlager“ gebracht. Julius erhielt die Häftlingsnummer Z-4095. Bald darauf wurde die Familie jedoch getrennt. Während die Mutter mit den beiden jüngsten Söhnen Adolf und Erich, zu diesem Zeitpunkt etwa 17 und 15 Jahre alt, in Auschwitz-Birkenau verblieb, wurden Julius und sein Bruder Ewald (21 und 19 Jahre alt) am 12. April 1943 in das sogenannte Stammlager (Auschwitz I) verlegt. Dies rettete ihnen vermutlich das Leben, während die Mutter mit den beiden jüngeren Brüder innerhalb weniger Monate in Birkenau ermordet wurden.

KonzentrationslagerKonzentrationslager Konzentrationslager (kurz: KZ oder KL) waren das wichtigste Instrument der NS-Terrorherrschaft. Erste Lager entstanden schon im März 1933, kurz nach der Machtübernahme der NSDAP, anfangs noch in u.a. leeren Fabrikgebäuden, ehemaligen Gefängnissen und Kellergewölben. Bis Kriegsbeginn wurden sieben Konzentrationslager errichtet, bis Ende des Krieges waren es 22 Hauptlager mit weit über 1.000 Außenlagern und Außenkommandos. Alle, die von den Nationalsozialisten zu weltanschaulichen, religiösen und „rassischen“ Gegnerinnen und Gegnern erklärt worden waren, sollten dort inhaftiert werden. Darunter befanden sich vor allem Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Kommunisten, Sozialisten und andere politische Gegner. Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Haftbedingungen weiter und die Ermordung der Gefangenen wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Arbeitskraft der Häftlinge sollte bis zur völligen Erschöpfung oder bis zum Tod für die Kriegswirtschaft ausgenutzt werden. Die SS bezeichnete dies als "Vernichtung durch Arbeit". Natzweiler-Struthof

Im November 1943 suchte die SSSchutzstaffel Die Schutzstaffel (kurz: SS) war 1925 als persönliche Leibwache Hitlers gegründet worden. Den höchsten Dienstgrad innerhalb der SS stellte seit 1934 der „Reichsführer SS“ dar. Bis 1945 nahm Heinrich Himmler diese Position ein. Unter seiner Leitung wurde die SS zu einer Eliteeinheit aufgebaut, die zum zentralen Instrument des staatlichen Terrors wurde. Die SS hatte im Rahmen der „Endlösung“ maßgeblichen Anteil am Völkermord an den europäischen Juden sowie den Sinti und Roma. nach Häftlingen für einen angeblichen Arbeitseinsatz in Deutschland. Julius Strauß und etwa 90 weitere Männer meldeten sich freiwillig in der Hoffnung, dem Grauen in Auschwitz zu entkommen. Julius hatte noch einen anderen Beweggrund: „Da hab´ ich mir gedacht, das ist die einzige Möglichkeit, wo ich abhauen kann.“ Dieser Plan zerschlug sich jedoch bald, nachdem bereits ein anderer Häftling einen Fluchtversuch unternahm, aber freiwillig wieder zum Transport zurückkehrte. Eine Flucht war nun nicht mehr möglich, da die Bewachung verstärkt wurde.

Der Transport endete schließlich nicht in Deutschland bei einem Arbeitseinsatz, sondern im KZ Natzweiler-Struthof im Elsass. Zunächst wurden die Häftlinge in Viehwaggons von Auschwitz bis nach Rothau im Elsass transportiert. Von dort aus wurden sie mit Lastwagen zum Lager gebracht, wo Julius Strauss am 12. Dezember mit der Häftlingsnummer 6561 registriert wurde.

Die auf Terrassen angelegten Baracken des KZ Natzweiler-Struthof 
nach der Befreiung, 2.12.1944 (Foto: USHMM 77574)
Die auf Terrassen angelegten Baracken des KZ Natzweiler-Struthof
nach der Befreiung, 2.12.1944 (Foto: USHMM 77574)

Nach ihrer Ankunft wurden die Männer in den Krankenbaracken untergebracht. 45 Häftlinge mussten sich jeweils ein kleines Zimmer teilen. Zusätzlich hatten sie all ihre Kleider abzugeben und bekamen dafür nur eine Art Nachthemd und Holzschuhe.

Medizinische Experimente

Anders als gedacht, musste Julius Strauß in Natzweiler ein noch größeres Martyrium durchleben als in Auschwitz. Die Männer mussten zwar keine ZwangsarbeitZwangsarbeit Bezeichnung für die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft ohne oder mit nur sehr geringer Bezahlung. Das nationalsozialistische Deutschland schuf mit insgesamt über 12 Millionen Zwangsarbeiter*innen eines der größten Zwangsarbeitssysteme der Geschichte. Neben Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen wurden Millionen von Zivilisten aus besetzten Staaten Europas größtenteils verschleppt und von der deutschen Industrie als Zwangsarbeiter*innen missbraucht. leisten, wurden aber als „Versuchskaninchen“ missbraucht. Julius Strauß musste dies gleich in zweifacher Weise über sich ergehen lassen. Bei den menschenverachtenden Fleckfieberversuchen wurde ihm zunächst ein neuer Impfstoff gespritzt. Danach infizierte man ihn mit dem Flecktyphuserreger über eine aufgeritzte Hautstelle, um die Wirkung des Mittels zu testen. Er und die anderen Versuchsopfer wurden isoliert und bekamen schweres Fieber. Julius Strauß überlebte.

Gebäude der Gaskammer in der Gedenkstätte des KZ Natzweiler-Struthof (Foto: Andreas Pflock)
Gebäude der Gaskammer in der Gedenkstätte des KZ Natzweiler-Struthof (Foto: Andreas Pflock)
Blick in die erhaltene Gaskammer in der Gedenkstätte des KZ Natzweiler-Struthof (Foto: Andreas Pflock)
Blick in die erhaltene Gaskammer in der Gedenkstätte des KZ Natzweiler-Struthof (Foto: Andreas Pflock)

Bei einer anderen Versuchsreihe, vermutlich mit Senfgas, erhielt er ebenfalls eine Spitze mit einem Schutzmittel und wurde in die Gaskammer des Lagers gesperrt. Anschließend wurde das giftige Gas freigesetzt, um die Wirkung des Schutzmittels zu erproben. Von anderen Häftlingen hatte er vorher den Hinweis erhalten, sich ein Stück Stoff mit Urin auf den Mund und die Nase zu pressen und sich auf den Boden direkt vor das Sichtfenster zur Gaskammer zu legen. So gelang es Julius Strauß, die Gaskammer lebend zu verlassen. Ab diesem Zeitpunkt litt er jedoch unter einer schweren Lungenkrankheit.

KZ-Außenlager Neckarelz

Julius Strauß meldete sich auch in Natzweiler noch einmal freiwillig für einen Transport, denn seine Angst war groß, weitere medizinische Versuche nicht zu überleben. Das Ziel hieß Neckarelz. Dort bestand ein Außenlager, in dem die Gefangenen in einem Schulgebäude untergebracht wurden und Zwangsarbeit in einem Stollen verrichten mussten. Aufgrund seiner schweren Lungenkrankheit war Julius dazu jedoch nicht mehr in der Lage. Zwei Mithäftlinge schleppten ihn jeden Tag mit in den Stollen, wo er auf eine Decke gelegt wurde, während die anderen Häftlinge arbeiteten. So gelang es, seinen schlechten Gesundheitszustand eine Weile geheim zu halten. Schließlich wurde er jedoch als „Krankenfall“ zurück nach Natzweiler gebracht. Dort kam er aufgrund seiner Lungenkrankheit sofort in die Krankenbaracken. Sowohl in Natzweiler wie auch in allen NS-Konzentrationslagern waren dies keine Orte medizinischer Versorgung, sondern vielmehr Sterbeorte, da es an allen notwendigen medizinischen Hilfsmitteln und Medikamenten fehlte. In jedem Zimmer lagen etwa 15 bis 20 lungenkranke Häftlinge, von denen die meisten starben. Julius und sein niederländischer Zimmerkamerad Jan van Kuik überlebten. Es entstand eine Freundschaft, die ein Leben lang halten sollte.

Ein französischer Häftlingsarzt rettete beiden das Leben. Bei Julius Strauß punktierte er mit improvisierten Mitteln zweimal pro Woche die Lunge, indem er ihm eine Nadel zwischen die Rippen schob. Dadurch wurde zumindest eine gewisse Heilung ermöglicht. Dennoch war er weiterhin sehr krank. Unerwartete Hilfe kam von dem KapoFunktionshäftling Funktionshäftlinge (auch als „Kapos“ bezeichnet) setzte die SS in allen Konzentrationslagern ein. Ihnen wurde befohlen, viele unmittelbare Abläufe des Lageralltags im Auftrag der SS anzuleiten und zu kontrollieren. Einerseits sparte die SS-Verwaltung auf diese Weise eigenes Personal und Kosten dafür ein, andererseits wurde bewusst eine Lagerhierarchie geschaffen, um die Entstehung einer breiten Solidarität unter den Gefangenen zu verhindern. Funktionshäftlinge erhielten einige Zugeständnisse, z.B. einen abgetrennten Schlafbereich, besseres Essen und leichtere Arbeit. Manche Funktionshäftlinge setzten sich für ihre Mitgefangenen ein und versuchten, sie vor den Übergriffen der SS zu schützen. Andere wiederum handelten ebenso brutal wie das SS-Personal und waren von den Gefangenen gefürchtet und verhasst., der Julius Strauß während seiner ersten Inhaftierung in Natzweiler geschlagen hatte. Dieser schien mit Hinblick auf das Näherrücken der Alliierten Angst zu haben, nach der Befreiung für sein brutales Auftreten gegenüber vielen Mithäftlingen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Er veränderte Einträge in der Lagerkartei und ermöglichte Julius Strauß damit, Briefe und Pakete zu erhalten. Einen ersten Brief schmuggelte der Kapo sogar selbst aus dem Lager. Die Essenspakete, die Julius Strauß daraufhin erhielt, waren seine Rettung. Zudem konnte er damit auch einigen anderen geschwächten Häftlingen dazu verhelfen, wieder zu Kräften zu kommen. Möglich war dies vermutlich nur, weil der Bruder seiner Halbschwester Richard Höllenreiner von den Behörden erfasst, jedoch nicht deportiert worden war und in der Friedrichstraße 2 in Hersbruck lebte. Ein Dokument aus der Verwaltung des KZ Natzweiler belegt, dass Julius am 7.5.1944 den ersten offiziellen Brief dorthin absenden und am 21.5. die erste Brief- oder Paketsendung empfangen konnte. Am 20.8. verfasste er den letzten Brief aus Natzweiler. Die letzte eingehende Postsendung traf nur wenige Tage später, am 23. August, dort ein.

KZ Dachau und Befreiung

Die Ankunft von Julius Strauß im KZ Dachau wurde im Zugangsbuch mit seiner dortigen Häftlingsnummer festgehalten
(Foto: Arolsen Archives 130432323)

Angesichts der näherkommenden alliierten Streitkräfte begann im September 1944 die Räumung des Lagers Natzweiler-Struthof. Die SS transportierte die Gefangenen mit der Bahn nach Dachau. Dort wurde Julius nach der Ankunft am 6. September die Häftlingsnummer 103.637 zugewiesen. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands nahm man ihn direkt in den Krankenbaracken auf. Dort überlebte Julius Strauß bis zur Befreiung des Lagers am 29. April 1945 durch amerikanische Soldaten. Auch viele Jahrzehnte später erinnerte er sich daran, wie überrascht er davon war, denn er hatte damals keine Anzeichen für eine Befreiung des Lagers wahrnehmen können. Aufgrund seiner schweren Lungenkrankheit konnte er jedoch nicht sofort nach Hause zurückkehren und nach seinen Familienangehörigen suchen. Da er nicht transportfähig war, blieb er noch bis Juni 1945 in Dachau, wo er von medizinischem Personal der Alliierten versorgt und gepflegt wurde.

Weiterleben

Nachdem er wieder zu Kräften gekommen war, kehrte Julius Strauß zunächst nach Hersbruck zurück. Dort traf er auch seinen Vater und seinen Bruder Ewald wieder, die überlebt hatten. Auch seine Halbschwester Wilhelmine Höllenreiner war am Leben. Sie war zwar nicht deportiert worden, zwischenzeitlich aber in einem Zuchthaus inhaftiert, weil sie aus Wut über die Verhaftung ihrer Familienangehörigen auf einem Hitlerbild herumgetreten war. Eine Nachbarin hatte Wilhelmine deswegen angeschwärzt. Während ihrer Haft musste sie Zwangsarbeit leisten, wodurch sie ebenfalls schwere gesundheitliche Schäden erlitt. Zudem nahmen die Behörden ihr die vierjährige Tochter Maria weg und trennten somit für lange Zeit Mutter und Kind. Julius Strauß musste auch erfahren, dass der Großteil seiner Familie in Lagern ermordet worden war: ein schwerer Verlust und Schmerz, den er ein Leben lang mit sich tragen musste.

Schließlich heirateten Julius Strauß und Johanna Höllenreiner. Beide wohnten noch bis 1991 in Hersbruck und wurden Eltern von drei Töchtern. Wie für viele andere überlebende Sinti und Roma sowie auch Juden war die Gründung einer Familie eine wichtige eigene Bestätigung dafür, dass den Nationalsozialisten eine völlige Auslöschung nicht gelungen war. Später zog die Familie nach Fürth bei Nürnberg. Bis ins hohe Alter arbeitete Julius Strauß als anerkannter und geschätzter Geigenhändler. Als Entschädigung erhielt er eine Rente aufgrund seiner gesundheitlichen Schäden durch die medizinischen Experimente in Natzweiler. Um eine Erhöhung dieser Rente wegen Verschlimmerung seiner Leiden kämpfte er vergeblich. Unterstützt wurde er dabei von seinem ehemaligen Kameraden Jan van Kuik, der lange Zeit nach ihm gesucht hatte. Auch das Komitee der ehemaligen niederländischen Natzweiler-Häftlinge versuchte, Julius Strauß beim Entschädigungsverfahren durch Stellungnahmen und Briefe an die deutschen Behörden zu unterstützen. Auch wenn diese Bemühungen die ablehnenden Bescheide nicht beeinflussen konnten, so war die Freundschaft zu Jan van Kuik für Julius Strauß ein hohes Gut, das ihn auch im hohen Alter noch sehr mit Freude und Emotionen erfüllte.

Julius Strauß war es besonders wichtig, dass gerade junge Menschen sich für die Verbrechen der Nationalsozialisten und insbesondere auch für das Schicksal der Sinti interessieren. Auch deshalb war er bereit, seine Erinnerungen mit anderen zu teilen, so schmerzhaft dies für ihn war. „Wie ein Film kommt dann wieder alles vor mir. Und das ist das Furchtbare,“ formulierte Julius Strauß in einem Interview im Jahr 2005 über seinen Gefühlszustand beim Sprechen über seine Erlebnisse in der NS-Zeit.

Julius Strauß in seiner Wohnung am 17. Juni 1993 (Privatbesitz/Archiv DokuZ)
Julius Strauß in seiner Wohnung am 17. Juni 1993
(Privatbesitz/Archiv DokuZ)

Am 4. Januar 2006 verstarb Julius Strauß mit 83 Jahren und wurde im Familiengrab auf dem Friedhof in Stadeln bei Fürth beigesetzt. Dort waren zuvor schon seine Halbschwester und sein Vater begraben worden. Außerdem befindet sich dort eine Gedenkplatte für seine Mutter und Geschwister, die in Auschwitz ermordet worden waren. An der Hauswand des ehemaligen Wohnhauses der Familie Strauß, Im Eisenhüttlein 8 in Hersbruck, ließen ihre Nachfahren eine Gedenktafel anbringen. Sie erinnert an die Familie Strauß und ihre Familienmitglieder, die in Auschwitz-Birkenau ermordet wurden.

Quellenangaben

Archiv Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg: Interview mit Julius Strauß am 24.10.2005, Unterlagen zum Entschädigungsverfahren von Julius Strauß aus dem Privatbesitz von Jan van Kuik, Dinxperlo, private Fotoaufnahmen aus dem Besitz von Julius Strauß

Arolsen Archives: 3129041 Nummernbuch Natzweiler, 3236647 Formular für Post- und Paketempfang Natzweiler, 130432323 Zugangsbuch Dachau, 501799 Häftlingspersonalbogen von Julius Strauß aus dem KZ Auschwitz-Birkenau

United States Holocaust Memorial Museum: Foto USHMM 77574

Awosusi, Anita/Pflock, Andreas: Sinti und Roma im KZ Natzweiler-Struthof. Anregungen für einen Gedenkstättenbesuch, Heidelberg 2006.
Gedenkbuch. Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Band 1 und 2, hrsg. v. Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau in Zusammenarbeit mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg, München 1993.
Kornmayer, Peter/Wrensch, Thomas: Verfolgt, deportiert, ermordet. Die Geschichte der Sinti in Hersbruck 1939-1945, hrsg. v. Dokumentationsstätte KZ Hersbruck e.V. zum 75. Jahrestag der Deportationen aus Hersbruck am 8. März 1943, Hersbruck 2018.
Schmaltz, Florian: Die Gaskammer im Konzentrationslager Natzweiler. Experimentalanlage der Chemiewaffenforschung und Instrument des Massenmords für den Aufbau einer anatomischen Skelettsammlung, in: Morsch, Günter/Perz, Bertrand (Hrsg.): Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung, Berlin 2011, S. 304-315.

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