Beschreibung
Das Denkmal befindet sich westlich der Ortsmitte von Dreihausen, einem Ortsteil und dem Verwaltungssitz der GemeindeKommune / Gemeinde Bezeichnung für die kleinste öffentliche Verwaltungseinheit in der Organisation eines Staates. Ebsdorfergrund im Osten des mittelhessischen Landkreises Marburg-Biedenkopf. Als symbolische Grabstätte gedacht, wurde es vor dem Gebäude der Friedhofskapelle und gegenüber dem Eingang zum Friedhof errichtet. Es besteht aus 18 Bastaltstelen, die für die aus Dreihausen deportierten Sinti stehen. Die unterschiedliche Größe der Stelen deutet hierbei die verschiedenen Familienmitglieder an – vom Kind bis zum Erwachsenen. An der zur Straße weisenden Stirnseite befindet sich eine 20x30cm große Gedenktafel aus Metall mit folgender Inschrift:
„Am 23. März 1943 wurden 18 Männer, Frauen und Kinder aus Dreihausen in das KonzentrationslagerKonzentrationslager Konzentrationslager (kurz: KZ oder KL) waren das wichtigste Instrument der NS-Terrorherrschaft. Erste Lager entstanden schon im März 1933, kurz nach der Machtübernahme der NSDAP, anfangs noch in u.a. leeren Fabrikgebäuden, ehemaligen Gefängnissen und Kellergewölben. Bis Kriegsbeginn wurden sieben Konzentrationslager errichtet, bis Ende des Krieges waren es 22 Hauptlager mit weit über 1.000 Außenlagern und Außenkommandos. Alle, die von den Nationalsozialisten zu weltanschaulichen, religiösen und „rassischen“ Gegnerinnen und Gegnern erklärt worden waren, sollten dort inhaftiert werden. Darunter befanden sich vor allem Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Kommunisten, Sozialisten und andere politische Gegner.
Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Haftbedingungen weiter und die Ermordung der Gefangenen wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Arbeitskraft der Häftlinge sollte bis zur völligen Erschöpfung oder bis zum Tod für die Kriegswirtschaft ausgenutzt werden. Die SS bezeichnete dies als "Vernichtung durch Arbeit". Auschwitz deportiert und dort fast alle ermordet. Mit ihnen fielen über 500.000 europäische Sinti und Roma dem nationalsozialistischen VölkermordVölkermord Bezeichnung für die vorsätzliche Ermordung, Ausrottung oder anderweitige Vernichtung von Volksgruppen aufgrund ihrer vermeintlich rassischen, ethnischen oder sozialen Merkmale, ihrer Nationalität oder religiösen Überzeugungen. 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen einen völkerrechtlichen Vertrag über die Verhütung und die Bestrafung von Völkermorden. zum Opfer.
In Gedenken und Achtung von den Ermordeten, als Mahnung und Verpflichtung.“
Entstehung
Schon zwanzig Jahre vor der Entstehung des Denkmals hatte Agnes Blanke ein Erinnerungszeichen für die deportierten Angehörigen der Sinti-Familien Steinbach, Kreutz und Winter angeregt, stieß damit jedoch auf Ablehnung. Als junge Frau hatte sie die Familien bei einem Aufenthalt in Dreihausen im Spätsommer 1942 kennengelernt. Ihre damals angefertigten Tagebuchaufzeichnungen und Fotografien sind bis heute ein einzigartiges und bewegendes Zeugnis von Opfern des grenzenlosen Vernichtungswillens der Nationalsozialisten. Nur drei der insgesamt 18 im März 1943 nach Auschwitz deportierten Männer, Frauen und Kindern überlebten.
Erst die unvorhergesehene Dynamik eines engagierten Schulprojekts führte schließlich zur intensiven öffentlichen Auseinandersetzung der lokalen Bevölkerung und zur Einweihung eines Erinnerungsortes. Den Anstoß hierzu lieferte im Jahr 2005 ein von der Evangelischen Kirche in Dreihausen organisiertes „Politischen Nachtgebet“. Es war gemeinsam mit Schüler*innen der Gesamtschule Ebsdorfergrund zum Thema „Kinder in Zeiten von Krieg, Verfolgung und Flucht“ vorbereitet worden. Aus dieser ersten Begegnung mit dem Schicksal lokaler Sinti-Familien entwickelten sich Unterrichtsprojekte mit dem Ziel, die Lebenswege der Verfolgten zu erforschen, an sie namentlich und im örtlichen und öffentlichen Bewusstsein zu erinnern und die Zivilgesellschaft zukunftsweisend zu mahnen. Vier Jahre lang und darüber hinaus setzten sich die jeweils 10. Gymnasialklassen an der Gesamtschule Ebsdorfergrund, angeleitet von ihrem Geschichtslehrer Mirko Meyerding, mit Aspekten des Themas auseinander und schufen schrittweise öffentlich sichtbare Ergebnisse und damit nicht zuletzt auch eine breite Sensibilisierung der Bevölkerung. Den Ausgangspunkt dafür bildeten die von Agnes Blanke überlieferten Aufzeichnungen und Fotografien.
Die Schüler*innen übernahmen Recherchen in Staats-, Kirchen- und Gemeindearchiven sowie in Bibliotheken und führten Gespräche mit Zeitzeug*innen. Durch die Projekte, die in Kooperation der Evangelischen Kirchengemeinde und der Gesamtschule Ebsdorfergrund mit Unterstützung der kommunalen Gemeinde und des Hessischen Landesverbands der Sinti und Roma durchgeführt wurden, konnte umfassendes Material zusammengetragen werden. Am 19. November 2006 wurde anlässlich des Volkstrauertags in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Dreihausen die Ausstellung „Verfolgte Kinder im Landkreis Marburg-Biedenkopf“ eröffnet. Die vom „Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Stadtallendorf“ erarbeitete Dokumentation konnte im Anschluss im örtlichen Bürgerzentrum gezeigt werden. Ziel dabei war es, die Öffentlichkeit auf das Schicksal verfolgter Kinder in der NS-Zeit aufmerksam zu machen und für die Thematik zu sensibilisieren.
Wenig später präsentierten die Schüler*innen die Ergebnisse ihrer Recherchen in Form einer eigenen Ausstellung. Sie wurde am 31. Mai 2007 unter dem Titel „Von Dreihausen nach Auschwitz – das Schicksal der Dreihäuser Sinti-Kinder“ im Forum der Gesamtschule präsentiert und schilderte anhand von Zeitzeug*innenberichten, Dokumenten und Fotos das Verfolgungsschicksal der Sinti-Kinder. Am Abend der Ausstellungseröffnung mit rund 170 Gästen präsentierten die Schüler*innen den von ihnen produzierten 30-minütigen Film „Hartli und Schorseli, Theo und Häns. Die Sinti-Kinder von Dreihausen“ und schufen damit einen weiteren Impuls für den Prozess der öffentlichen Auseinandersetzung. In Anwesenheit von Agnes Blanke, die aus ihren Tagebuchaufzeichnungen las, stellte die Projektgruppe zudem Pläne für ein Denkmal vor. Die Idee dazu war bereits im Winter 2006 entstanden, um ein bleibendes öffentliches Erinnerungszeichen für die Deportierten zu schaffen. Dem von Schüler*innen vorangetriebenen und mit Leben erfüllten örtlichen Auseinandersetzungsprozess ist zu verdanken, dass diese Idee auf breite Zustimmung stieß. Adam Strauß, Vorsitzender des Hessischen Landesverbands der Sinti und Roma, zeigte sich bei der Veranstaltung sichtlich überwältigt von dem breiten öffentlichen Interesse. Zur Finanzierung des Denkmals initiierten die Schüler*innen eine Spendensammlung und verkauften dafür von ihnen entworfene symbolische „Anteilscheine“ mit dem Foto einer Sinti-Familie. Durch ihren Erwerb sollte wortwörtlich auch eine persönliche Anteilnahme am Gedenk- und Erinnerungsprozess zum Ausdruck gebracht werden können.
Bereits am 18. November 2007 erfolgte die Grundsteinlegung für das Denkmal. Die von den Schüler*innen entwickelte Gestaltungsidee wurde vom Bildhauer Alexander von Pazatka Lipinski umgesetzt. Als zentrale Elemente wurden Basaltsäulen eingesetzt, die auf den Zwangsarbeitseinsatz der Sinti-Männer in den örtlichen Steinbrüchen verweisen sollen. Die Bastaltsäulen wurden von der Projektgruppe mit Unterstützung des Dreihäuser Bürgers Bernhard Peil in einem Dreihäuser Steinbruch geborgen. Ein ursprünglich im Gestaltungsentwurf vorgesehener Hügel sollte zudem das „Verschwinden“ der Menschen am Ende ihres Verfolgungswegs symbolisieren. Da er als Teilelement des Denkmals nur mit großem Aufwand hätte realisiert werden können und die beteiligten Schüler*innen sich auch gegen ihn aussprachen, wurde dieser Teil des Denkmals schließlich nicht umgesetzt.
Sieben Monate später konnte das Denkmal am 18. Juni 2008 in Anwesenheit von rund 80 Gästen, darunter die Auschwitz-Überlebende Anna Mettbach und der Vorsitzende des Landesverbands der Sinti und Roma Adam Strauß, feierlich eingeweiht werden. Die Finanzierung in Höhe von rund 2200,- Euro war durch Spenden und Kirchenkollekten möglich geworden. Die Gemeinde übernahm die bauliche Bereitstellung des Denkmalfundaments. Bürgermeister Andreas Schulz betonte in seiner Ansprache: „Es soll ein Zeichen gegen das Wegschauen und für freie Meinungsäußerung in Frieden und Freiheit sein.“ Anna Mettbach appellierte vor allem an die Jugendlichen: „Macht weiter so, und macht es besser. Wer kein Rassist ist, hat Freunde in der ganzen Welt!“
Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte die Projektgruppe die Tagebuchaufzeichnungen und Fotografien von Agnes Blanke unter dem Titel „Geliebte Zigeunerkinder“ und machte damit ein wesentliches Zeugnis der Erinnerung an die Deportierten der Öffentlichkeit zugänglich. Wenig später konnte am 23. März 2009 die noch fehlende Gedenktafel am Denkmal im Rahmen einer Feierstunde angebracht werden. Sie wurde durch eine Spende von Werner Böckler, dem damaligen Ortsvorsteher von Roßberg (einem Ortsteil der Gemeinde Ebsdorfergrund), ermöglicht. Als gelernter Metallbauer übernahm er auch deren Herstellung. Die Pflege des Denkmals wird seitdem von der Schule getragen, um dauerhaft eine Auseinandersetzung auch zukünftiger Schüler*innen-Generationen mit dem Thema anzustoßen und Verantwortung für den Fortbestand der Erinnerung zu zeigen. Der Musiker und „Singer Songwriter“ Robert Oberbeck aus Marburg hat den deportierten Sinti-Kindern zudem sein Lied „Theo and Anna“ gewidmet. Es erschien im Jahr 2009 auf seiner CD „Light The Place Of Darkness“.
Die 18 Bastaltsäulen in Dreihausen stehen nicht nur für die 18 Deportierten, sondern darüber hinaus auch für ein bundesweit beispielhaftes herausragendes und beeindruckendes schulisches und zivilgesellschaftliches Engagement. Schüler*innen mehrere Jahrgänge, angeleitet von ihrem Geschichtslehrer, haben gemeinsam mit kommunaler Politik sowie mit Unterstützung der örtlichen evangelischen Kirche und des Landesverbands der Sinti und Roma öffentliche Denk- und Erinnerungsprozesse angestoßen und ein ebenso eindrucksvolles wie auch nachhaltiges Erinnerungszeichen geschaffen, dessen Botschaft bis heute mit Leben erfüllt wird.
Gestaltung
Das Denkmal wurde vom Bildhauer und Maler Alexander von Pazatka Lipinski entworfen und gestaltet. Er wurde 1965 in Darmstadt geboren und ist seit 1986 in Petersberg beheimatet. Nach dem Abschluss der Realschulausbildung begann er im Jahr 1981 eine Ausbildung zum Steinmetz und Steinbildhauer in Großenlüder, die er nach drei Jahren erfolgreich beendete. Im Jahre 1997 schloss Alexander von Pazatka Lipinski erfolgreich seine Meisterprüfung ab. Parallel dazu erweiterte er seine künstlerischen Fähigkeiten durch bildhauerische und malerische Studien. Besonders wertvoll erwies sich dabei der Kontakt zum Bildhauer David Campbell, in dessen Atelier er an einigen Seminaren teilnahm. Für Alexander von Pazatka Lipinski steckt in jedem rohen Stein eine Skulptur, die sein inneres Auge erspürt und die er auch dem ungeschulten Betrachter sichtbar macht. Je nach Material, künstlerischer Inspiration und fachgerechter Bearbeitungstechnik, entstehen dabei Formen, die die Schönheit des Steines hervorheben.
Neben seinem bildhauerischen Schaffen widmet sich Alexander von Pazatka Lipinski seit vielen Jahren der Malerei, die eine Palette vielfältiger Motive umfasst. Für die Darstellung von Landschaften, Stillleben, Menschen und Tieren, von denen seine Bildwelt bestimmt wird, verwendet er sowohl Öl- und Aquarellfarben wie auch Acryl-Pigmente und gelegentlich Kreiden. Seine Bildwelt wird nicht bestimmt von der Darstellung der Realität, sondern von der Wiedergabe charakteristischer Linien und Formen, die eine Impression des Dargestellten entstehen lassen.
Internetseite von Alexander von Pazatka Lipinski
Quellenangaben
Archiv Dokumentations- und Kulturzentrum, Heidelberg: Sammlung Gedenkorte
Becker, Martina: 18 Bastaltstelen zur Erinnerung. Sinti-Mahnmal wurde am Freihäuser Friedhof eingeweiht in Oberhessische Presse vom 25.6.2008.
Dies.: Neue Mahnmal gegen das Vergessen in Oberhessische Presse am 21.11.2007.
Meyerding, Mirko (Hrsg.): „Geliebte Zigeunerkinder“. Das Tagebuch der Agnes Blanke, Marburg 2008.
Muth, Christina: Filmpremiere: Schüler erinnern an Sinti-Kinder in Oberhessische Presse am 2.6.2007.
Schrimpf, Rebekka: Erinnerungen an Dreihäuser Sinti-Familien in Oberhessische Presse am 21.11.2006.
http://www.sintikinder-dreihausen.de am 31.1.2022
Wir danken Mirko Meyerding für die freundliche Unterstützung und zahlreichen sachlichen Hinweise.