Herbolzheim, Eisenbahnstraße

Denkmal für die Angehörigen der aus Herbolzheim deportierten Sinti-Familie Spindler
  • Denkmal nach der Enthüllung am 24. März 2003 (Foto: Landesverband SuR BaWü)
  • Gesamtansicht der Denkmalsanlage (Foto: Landesverband SuR BaWü)
  • Zahlreiche Gäste nahmen an der feierlichen Einweihung des Denkmals teil (Foto: Landesverband SuR BaWü)
  • V.l.n.r.: Bürgermeister Ernst Schilling, der Überlebende Franz Spindler und der Vorsitzende des Landesverbands der Sinti und Roma in BaWü, Daniel Strauß (Foto: Landesverband SuR BaWü)
  • Detailansicht der Widmungsinschrift (Foto: Landesverband SuR BaWü)

Kurzinformation

Denkmal für die Angehörigen der aus Herbolzheim deportierten Sinti-Familie Spindler

Beschreibung

Das Denkmal befindet sich auf einem Eckgrundstück an der Einmündung der Eisenbahnstraße in die Grünestraße, rund 150 Meter östlich der Bahnstation und gegenüber des 1926 errichteten und 1950 erweiterten Denkmals für die im Ersten und Zweiten Weltkrieg Gefallenen.

Es wurde in Form eines aus drei Stelen zusammengesetzten, gleichschenkligen Dreiecks aus sandgestrahltem, grauen Sichtbeton gestaltet. Das verwendete Material wurde ausgewählt, um einerseits die Härte des Schicksals der Familie Spindler zu betonen und andererseits, um die Gestaltung deutlich vom gegenüberliegenden Kriegerdenkmal abzuheben. Das Denkmal wurde innerhalb eines dreieckigen, gepflasterten Platzes aufgestellt. Die wiederkehrende Grundform nimmt den dreieckigen Winkel auf, den die Sinti und Roma sowie alle Häftlinge in den Konzentrationslagern auf ihrer Kleidung tragen mussten. Diese Markierung der SSSchutzstaffel Die Schutzstaffel (kurz: SS) war 1925 als persönliche Leibwache Hitlers gegründet worden. Den höchsten Dienstgrad innerhalb der SS stellte seit 1934 der „Reichsführer SS“ dar. Bis 1945 nahm Heinrich Himmler diese Position ein. Unter seiner Leitung wurde die SS zu einer Eliteeinheit aufgebaut, die zum zentralen Instrument des staatlichen Terrors wurde. Die SS hatte im Rahmen der „Endlösung“ maßgeblichen Anteil am Völkermord an den europäischen Juden sowie den Sinti und Roma. – zusammen mit der den Menschen zugeteilten Häftlingsnummern – steht symbolisch für die Entmenschlichung durch das nationalsozialistische Verfolgungssystem, das Männer, Frauen und Kinder zu anonymen Nummern degradierte. Der Strandort des Denkmals hat eine besondere symbolische Bedeutung: es markiert eine Stelle, die die Verhafteten auf dem Weg zum Deportationszug passieren mussten.

Auf allen der drei 2,20 Meter hohen und 80 Zentimeter breiten Stelen wurden Inschriftentafeln angebracht. Auf der den Passanten an der Eisenbahnstraße zugewandten Seite wurde eine Vergrößerung des Dokuments „Fahrplan Herbolzheim – Auschwitz“ angebracht. Die zur Grünestraße ausgerichtete Fläche trägt eine Tafel mit dem Titel „Weggekommen...! Von Herbolzheim nach Auschwitz“ und führt 16 Namen der aus Herbolzheim deportierten Sinti-Familien Spindler und Wagner auf. Die Auflistung wird ergänzt durch eine historische Information: „Bei der LiquidierungLiquidierung Liquidierung bedeutet "Beseitigung“ oder „Zerstörung“. Im NS-Sprachgebrauch war damit die Ermordung von Menschen (u.a. von Insassen eines Gettos oder Lagers) gemeint. des sogenannten ‚Zigeunerlagers‘ Auschwitz-Birkenau wurden am 2. August 1944 2.800 Männer, Frauen und Kinder vergast und am 3.8.1944 in offenen Gruben verbrannt. Es ist davon auszugehen, dass alle mit Fragezeichen gekennzeichneten Familienmitglieder Opfer dieser Massenmordaktion wurden.“ Auf der dritten Seitenfläche wurde die eigentliche Gedenkinschrift angebracht. Sie lautet:

„Der VölkermordVölkermord Bezeichnung für die vorsätzliche Ermordung, Ausrottung oder anderweitige Vernichtung von Volksgruppen aufgrund ihrer vermeintlich rassischen, ethnischen oder sozialen Merkmale, ihrer Nationalität oder religiösen Überzeugungen. 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen einen völkerrechtlichen Vertrag über die Verhütung und die Bestrafung von Völkermorden. an den Sinti und Roma ist mit dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz, mit dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden, wie der an den Juden.
Prof. Dr. Roman Herzog, Bundespräsident a. D.

Wir gedenken all jener Bürgerinnen und Bürger der Stadt Herbolzheim, die in der Zeit des Nationalsozialismus gedemütigt, verfolgt, ihrer Rechte beraubt und ermordet worden sind. Herbolzheim, 24. März 2003
Stadt Herbolzheim, Verband Deutscher Sinti & Roma LV Baden-Württemberg“

Der Gedenkort erinnert an die DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet. der 14-köpfigen Familie Spindler sowie Rosa Wagner mit ihrer neun Monate alten Tochter Juliata, die sich bei der Familie zu Besuch aufhielten. Am 24. März 1943 wurden die 16 Männer, Frauen und Kinder von der Kriminalpolizei verhaftet. Fahrplanmäßig setzte sich der Deportationszug um 16.41 Uhr in Bewegung. Mit Haltestellen in u.a. Karlsruhe, Heilbronn, Nürnberg und Dresden, wo weitere Menschen in den Zug gepfercht wurden, traf dieser nach fast drei Tagen am 27. März 1943 in Auschwitz ein. Von den Deportierten überlebten nur die Brüder Lorenz und Franz Spindler. Sie wurden 1945 im KZKonzentrationslager Konzentrationslager (kurz: KZ oder KL) waren das wichtigste Instrument der NS-Terrorherrschaft. Erste Lager entstanden schon im März 1933, kurz nach der Machtübernahme der NSDAP, anfangs noch in u.a. leeren Fabrikgebäuden, ehemaligen Gefängnissen und Kellergewölben. Bis Kriegsbeginn wurden sieben Konzentrationslager errichtet, bis Ende des Krieges waren es 22 Hauptlager mit weit über 1.000 Außenlagern und Außenkommandos. Alle, die von den Nationalsozialisten zu weltanschaulichen, religiösen und „rassischen“ Gegnerinnen und Gegnern erklärt worden waren, sollten dort inhaftiert werden. Darunter befanden sich vor allem Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Kommunisten, Sozialisten und andere politische Gegner. Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Haftbedingungen weiter und die Ermordung der Gefangenen wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Arbeitskraft der Häftlinge sollte bis zur völligen Erschöpfung oder bis zum Tod für die Kriegswirtschaft ausgenutzt werden. Die SS bezeichnete dies als "Vernichtung durch Arbeit". Buchenwald befreit.

Entstehung

Ursprünglich angestoßen wurde der Prozess zur Errichtung eines Denkmals  durch einen ganzseitigen Artikel von Heiner Hiltermann in der Badischen Zeitung, die am 3. April 1997 über das Schicksal der Herbolzheimer Sinti-Familie Spindler berichtete. Das grundlegende Quellenmaterial dazu war bereits 1990 in die Hände des Herbolzheimers Reinhold Hämmerle gelangt. Gemeinsam mit Bertram Jenisch, Friedrich Hinn, Otto Zinsser und Bürgermeister Ernst Schilling gründete er im Jahr 2000 einen Bürgerarbeitskreis. Er setzte sich zum Ziel, die Geschichte der Deportierten als Kapitel der Stadtgeschichte aufzuarbeiten und in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken. Unterstütz wurde die Gruppe bei ihrem Vorhaben vom Verband Deutscher Sinti und Roma – Landesverband Baden-Württemberg.

Der Errichtung des Denkmals gingen dabei eine intensive Auseinandersetzung, Aufarbeitung und Kontextualisierung der lokalen Verfolgung der örtlichen Sinti-Familie Spindler in Form von Recherchen, Vorträgen und Veranstaltungen voraus. Den Initiatoren gelang es, unterschiedlichste Menschen in einen Dialog zu bringen und damit, die Thematik in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Unterstützt wurde dieser Prozess vom Auschwitz-Überlebenden und Zeitzeugen Franz Spindler. Durch zahlreiche Gespräche mit Jugendlichen trug er seine persönlichen Erinnerungen an die Verfolgung wie auch die Geschichte seiner Familie in das örtliche Bewusstsein zurück.

Überlegungen für einen würdigen Erinnerungsort waren von Anfang an Bestandteil des bürgerlichen Engagements. Als Standorte kamen die Ziegelhütte (der ehemalige Wohnort der Familie Spindler), der Bahnhof, das Rathaus oder eine Fläche gegenüber dem Kriegerdenkmal infrage. Ebenso wurden gestalterische Formen überlegt: die Rekonstruktion eines symbolischen Gleisstücks, ein stilisierter Koffer als Symbol für das letzte Gepäckstück auf dem Weg nach Auschwitz, die angedeutete Silhouette einer in Richtung Bahnhof laufenden Menschengruppe und – in Anlehnung an die KZ-Haft – Symbole wie Häftlingswinkel, Nummern oder Stacheldraht. Bei einem Treffen des Bürgerarbeitskreises mit Vertretern des Landesverbands der Sinti und Roma am 22. April 2002 fiel die gemeinsame grundsätzliche Entscheidung für den Standort. Das zukünftige Denkmal sollte vom Kriegerdenkmal deutlich abgesetzt, aber in räumlicher Nähe zu ihm platziert werden. Nach einem weiteren Treffen am 2. Mai wurde deutlich, dass das Denkmal gut erreichbar positioniert werden und gestalterisch keine Gleise oder Ähnliches kopieren sollte.

Das Freiburger Büro für ungewöhnliche Maßnahmen entwickelte unter Leitung von Klaus Werner schließlich den Plan für den Standort und die gestalterische Umsetzung. Ein angedachter beschränkt ausgeschriebener Gestaltungswettbewerb wurde aufgrund der engen Zeitplanung schließlich nicht durchgeführt. Dazu beigetragen hatte auch ein Entwurf aus dem Bürgerarbeitskreis, der von allen Beteiligten begrüßt wurde. Nach dem Probeaufbau eines Modells im Maßstab 1:1 stellte das Stadtbauamt im September den ausgearbeiteten Entwurf mit Kostenvoranschlägen vor. Die Finanzierung erfolgte durch den Herbolzheimer Kulturkreis und Fördermittel der EU.

In Erinnerung an den Befehl Heinrich Himmlers zur Deportation aller Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich nach Auschwitz vom 16. Dezember 1942 fanden im Dezember 2002 ein Symposium und ein Zeitzeugenforum unter Teilnahme des Regierungspräsidenten und des Landtagsvizepräsidenten in Herbolzheim statt. Am Jahrestag des Befehls wurde der Ort für das geplante Denkmal feierlich seinem zukünftigen Zweck gewidmet. Bürgermeister Schilling betonte dabei: „Wir werden an dieser Stelle zum 60. Jahrestag der Deportation unserer Sinti-Familie Spindler am 24. März nächsten Jahres ein Mahnmal mit dreifacher Zielsetzung errichten. 1) Die Schicksale der namentlich aufgeführten Deportierten sollen unvergessen bleiben. 2) Diese Menschen sollen posthum wieder in den Stand unbescholtener Bürger unserer Stadt erhoben werden. 3) Die Stadt Herbolzheim verdeutlicht mit diesem Mahnmal, dass hier RassismusRassismus Rassismus ist eine Form von Diskriminierung, bei der Menschen nicht als Individuen, sondern als Teil einer einheitlichen Gruppe mit bestimmten (meist negativen) Merkmalen und Charaktereigenschaften angesehen werden. Durch Rassismus wurden und werden Menschen aufgrund der realen oder vorgestellten Zugehörigkeit (beispielsweise zu einer Volksgruppe, Nationalität etc.) oder aufgrund äußerer Merkmale, einer bestimmten Religion oder Kultur vorverurteilt, ausgegrenzt, benachteiligt, unterdrückt, gewaltsam vertrieben, verfolgt und ermordet., Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit verabscheut und verurteilt werden.“ Abschließend legten Daniel Strauß, Vorsitzender des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma, und Bürgermeister Schilling gemeinsam ein Blumengebinde nieder.

Am Tag vor der Denkmalseinweihung erschien eine Sonderausgabe der „Herbolzheimer Blätter“ mit dem Titel „60 Jahr. Vergangen, verdrängt, vergessen?“, die die Deportation der Familie Spindler und die Inhalte der bis dahin durchführten öffentlichen Veranstaltungen dokumentierte. Die feierliche Einweihung des Denkmals am 24. März 2003 fand in Anwesenheit zahlreicher Bürgerinnen und Bürger gemeinsam durch den Bürgermeister Ernst Schilling, den Überlebenden Franz Spindler und den Vorsitzenden des Landesverbands, Daniel Strauß, statt.

Quellenangaben

Archiv Dokumentations- und Kulturzentrum, Heidelberg: Sammlung Gedenkorte

60 Jahre. Vergangen, verdrängt, vergessen? (Herbolzheimer Blätter, Band 5), Hrsg. Stadt Herbolzheim/Landesverband der Sinti und Roma Baden-Württemberg, Herbolzheim 2003
Hämmerle, Reinhold: Erinnerung an dunkles Kapitel der Geschichte, in: Badische Zeitung vom 21.03.2013, https://www.badische-zeitung.de/erinnerung-an-dunkles-kapitel-der-geschichte am 30.07.2024
Seitz, Ruth: Herbolzheim arbeitet dunkles Kapitel behutsam auf, in: Badische Zeitung vom 7.04.2003

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