Bremen, Friedhof Buntentor

Steinplatte zur Erinnerung an den Sinto Julius Dickel
  • Feierliche Einweihung der Steinplatte am 7. Mai 2022 (Foto: John Gerardu)
  • Steinplatte mit Details im Atelier von Katja Stelljes (Foto: John Gerardu)
  • Steinplatte mit Details im Atelier von Katja Stelljes (Foto: John Gerardu)
  • Gestaltungsentwurf der Steinplatte von Katja Stelljes (Foto: Katja Stelljes)
  • Grabstätte der Familie Dickel mit davor verlegter Steinplatte (Foto: Susanne de Bruin)
  • Linda Dickel am Familiengrab, 7. März 2020 (Foto: John Gerardu)
  • Detail der Steinplatte (Foto: John Gerardu)

Kurzinformation

Steinplatte zur Erinnerung an den Sinto Julius Dickel

Beschreibung

Der Friedhof Buntentor im gleichnamigen Bremer Stadtteil befindet sich etwa 1,5 Kilometer von der historischen Stadtmitte entfernt. Er ist der älteste kommunale Friedhof der Stadt und wurde im Jahr 1822 zunächst als Privatfriedhof angelegt. 1941 erfolgte die Übernahme als städtischer Friedhof. Seit dem Jahr 2016 ist er eingetragenes städtisches Kulturdenkmal. Auf dem Friedhofsareal befindet sich zudem ein Gräberfeld für Sinti und Roma. Mindestens 20 Grabstätten gehören Sinti und Roma, die in der NS-Zeit verfolgt wurden. Sie bilden die größte Grabanlage von NS-Verfolgten in Bremen.

Das Grab der Sinti-Familie Dickel mit der Nummer 401 erreicht man durch den Haupteingang und über einen parallel zu einer Mauer äußerst links verlaufenden Fußweg. Nach rund 100 Metern befindet sich die Grabstätte auf der rechten Seite. Sie wurde am 15. Januar 1929 nach dem Tod von Johann Dickel eingerichtet und ist wahrscheinlich das älteste bekannte Grab einer Sinti-Familie in Bremen. Im Februar 2020 wurde die Grabstätte in die „Liste besonders erhaltenswerter Grabsteine Friedhof Buntentor“ eingetragen.

Die dort ergänzend verlegte Steinplatte wurde aus Obernkichener Sandstein angefertigt, der aus dem Bückeberg im Weserbergland bei Bückeburg stammt. Hierbei handelt es sich um ein Material, dass bereits für die alten Teile der Grabstelle und zudem vielerorts in traditioneller Weise in Bremen verwendet wurde. Die Steinplatte trägt folgende Inschrift:
„In Erinnerung an Julius Dickel * 7.4.1926 + 20.1.1993 – Angehörige der Familie Dickel wurden in der NS-Zeit verfolgt, mindestens 16 ermordet“

Die Steinplatte für Julius Dickel auf dem Familiengrab seiner Großeltern soll an ihn und die Auslöschung seiner Familie erinnern und auf diese Weise zumindest symbolisch die Familie wieder zusammenführen. Julius Dickel wurde am 8. März 1943 im Alter von 16 Jahren mit seinen Eltern Petrus (einem der Söhne von Johann Dickel) und Maria Dickel und vier Geschwistern in Bremen verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Er überlebte verschiedene KonzentrationslagerKonzentrationslager Konzentrationslager (kurz: KZ oder KL) waren das wichtigste Instrument der NS-Terrorherrschaft. Erste Lager entstanden schon im März 1933, kurz nach der Machtübernahme der NSDAP, anfangs noch in u.a. leeren Fabrikgebäuden, ehemaligen Gefängnissen und Kellergewölben. Bis Kriegsbeginn wurden sieben Konzentrationslager errichtet, bis Ende des Krieges waren es 22 Hauptlager mit weit über 1.000 Außenlagern und Außenkommandos. Alle, die von den Nationalsozialisten zu weltanschaulichen, religiösen und „rassischen“ Gegnerinnen und Gegnern erklärt worden waren, sollten dort inhaftiert werden. Darunter befanden sich vor allem Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Kommunisten, Sozialisten und andere politische Gegner. Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Haftbedingungen weiter und die Ermordung der Gefangenen wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Arbeitskraft der Häftlinge sollte bis zur völligen Erschöpfung oder bis zum Tod für die Kriegswirtschaft ausgenutzt werden. Die SS bezeichnete dies als "Vernichtung durch Arbeit". und kehrte nach der Befreiung in seine Heimatstadt zurück. Schmerzlich musste er dort feststellen, dass er der einzige Überlebende seiner Familie war. Bei einem Besuch der Grabstätte erhielt er von einem Friedhofsmitarbeiter die Adresse eines Onkels in den Niederlanden und verließ Deutschland. 1958 heiratet er in den Niederlanden und bekam mit seiner Frau Simone eine Tochter. Doch seine traumatischen Erfahrungen und schweren Depressionen dominierten sein Leben und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Julius Dickel trennte sich früh von Frau und Tochter und zog nach Deutschland zurück. Einsam starb er im Jahr 1993 in Offenburg. Die dortige Grabstätte wurde inzwischen eingeebnet.

Entstehung

Die Initiative für die Steinplatte geht zurück auf den Wunsch der in Rotterdam lebenden Tochter von Julius Dickel, Linda Dickel. Ihr Anliegen wurde vom Bremer Arbeitskreis „Erinnern an den März 1943“ aufgegriffen und mit großem Engagement unterstützt und realisiert. Der 2017 gegründete Arbeitskreis benannte sich nach dem Datum der DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet. der Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland. In ihm sind u.a. der Landesverband Deutscher Sinti und Roma Bremen, die VVN/Bund der Antifaschisten, die Spurensuche-Bremen, das Kulturzentrum Walle/Brodelpott und das Kulturzentrum Schlachthof vertreten. Mit Informations- und Kulturveranstaltungen erinnert der Arbeitskreis an das Schicksal und vor allem die Verfolgung der Sinti und Roma in Bremen. Der Kontakt zu Linda Dickel, die nach Spuren ihres Vaters und ihrer Familie suchte, war entstanden, als Mitglieder des Arbeitskreises 1999 das niederländische Erinnerungszentrum Lager Westerbork besuchten.

Durch Unterstützung der Bremer Senatskanzlei, der Bremer Sparkasse und durch private Spenden gelangt es, die für die Realisierung notwendigen Finanzmittel zusammenzubringen. Am 17. November 2022 fasste der Ortsbeirat Bremen-Neustadt den Beschluss, die Pflege der Grabstätte und der Steinplatte für Julius Dickel finanziell abzusichern. Er setzte damit ein deutliches Zeichen für Zukunft dieses Erinnerungsortes. Im Beschluss heißt es dazu:

„Der Beirat Neustadt möchte die Erinnerung an die Familie Dickel wachhalten. Ihr Schicksal steht stellvertretend für die Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Um die Pflege der Grabstelle zu finanzieren, stellt der Beirat Neustadt für das Jahr 2023 bis zu 600,- € für die Pflege der Grabstelle und Blumenschmuck zur Verfügung. Der Beirat Neustadt strebt an, die Kosten für die Grabpflege auch zukünftig aus seinen Globalmitteln zu finanzieren. Eine entsprechende Beschlussfassung soll daher spätestens im Oktober eines jeden Jahres auf die Tagesordnung einer Beiratssitzung gesetzt werden.“

Zur Ausgestaltung einer längerfristigen Gedenkarbeit laufen derzeit Gespräche mit der Wilhelm-Kaisen-Oberschule in der Bremer Neustadt, die jährlich am Grab eine Gedenkveranstaltung mit Schüler*innen durchführen möchte.

Gestaltung

Die Steinplatte wurde von der Steinmetzkünstlerin Katja Stelljes aus Bremen gestaltet, die im Lloyd-Industriepark nahe der Bremer Innenstadt arbeitet. Sie absolvierte im Jahr 2000 den Abschluss als Steinmetz-/Steinbildhauermeisterin und Gestalterin im Steinmetzhandwerk an der Fachschule für Steingestaltung in Freiburg. Nach Tätigkeiten in Tübingen und Bremen arbeitet sie seit 2010 selbständig. 2011 erhielt Katja Stelljes den Bremer Förderpreis für Angewandte Kunst. Sie fertigt vor allem individuelle Grabsteine aus regionalen Natursteinen an. Darüber hinaus stellt die Bremerin auch kreative Kunstobjekte her, wie etwa Schalen aus alten Grabsteinen.

Bei der Gestaltung der Steinplatte ließ sich Katja Stelljes beim Motiv des Schmetterlings von einer Grabbeilage in Form eines Schmetterlings inspirieren, die Linda Dickel bei ihrem ersten Besuch des Familiengrabs auf dem Friedhof zurückgelassen hatte.

Internetseite von Katja Stelljes

Quellenangaben

Archiv Dokumentations- und Kulturzentrum, Heidelberg: Sammlung Gedenkorte

Rede von John Gerardu zur Einweihung des Gedenksteins für Julius Dickel am 7. Mai 2022 am Friedhof Buntentor

Hesse, Hans: Friedhof Buntentor – Denkmäler der Zukunft, hrsg. von der DENKORTE Initiative Neustadt, Bremen 2022.
Ders.: „Ich bitte, die verantwortlichen Personen für ihre unmenschlichen barbarischen Taten zur Rechenschaft zu ziehen.“ Die Deportation der Sinti und Roma am 8. März 1943 aus Nordwestdeutschland, Bremen 2022.

https://www.spurensuche-bremen.de/spur/das-schicksal-der-von-den-nazis-deportierten-sinti-familie-petrus-dickel/ am 4.03.2023

Wir danken dem Arbeitskreis „Erinnern an den März 1943“ und John Gerardu für die freundliche Unterstützung und die zur Verfügung gestellten Informationen und Materialien sowie Katja Stelljes für die Nutzungserlaubnis ihrer Entwurfsskizze.

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