Frankfurt, Braubachstraße

Gedenktafel für die verfolgten Frankfurter Sinti und Roma
  • Detailansicht der Gedenktafel (Foto: Maja Kliem)
  • Blick in die Braubachstraße (Foto: Andreas Pflock)
  • Gedenktafel an der linken Seite der Hausfassade (Foto: Andreas Pflock)
  • Gesamtansicht der Gedenktafel mit QR-Code für vertiefende Informationen (Foto: Maja Kliem)
  • Blick von der Braubachgasse auf die Hausfassade mit Gedenktafel (Foto: Maja Kliem)
  • Detailsansicht der Gedenktafel (Foto: Andreas Pflock)

Kurzinformation

Gedenktafel für die verfolgten Frankfurter Sinti und Roma

Beschreibung

Die Gedenktafel befindet sich in der Altstadt von Frankfurt, nur wenige Schritte von der Paulskirche und der U-Bahn-Station „Dom/Römer“ entfernt. Sie wurde an der Fassade (linkerhand neben dem Restaurant im Erdgeschoss und der Tordurchfahrt) eines Gebäudekomplexes angebracht, in dem heute die Geschäftsstelle des Börsenvereins des deutschen Buchhandels ihren Sitz hat. Die historische Bedeutung des Gebäudes ist vielschichtig. In der NS-Zeit befand sich hier das Stadtgesundheitsamt, das ebenso wie die dort beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine entscheidende Rolle bei der Verfolgung und Ermordung der Frankfurter Sinti und Roma spielte. Nach dem Krieg waren im Gesundheitsamt zwei Personen angestellt, die maßgeblich an den menschenverachtenden „Rassenuntersuchungen“ von Sinti und Roma beteiligt waren.

Die Inschrift der Bronzetafel lautet:

„Mehrere hunderttausend europäische Roma und Sinti wurden unter nationalsozialistischer Herrschaft ermordet. An über 20.000 deutschen Sinti und Roma wurden ‚rassenbiologische‘ Untersuchungen durchgeführt. ZwangssterilisationZwangssterilisation Bezeichnung für einen erzwungenen medizinischen Eingriff, bei dem ein Mensch ohne Einwilligung unfruchtbar, also unfähig zur Fortpflanzung, gemacht wird. Von Zwangssterilisationen waren in der NS-Zeit ca. 400.000 Menschen betroffen, darunter auch viele Angehörige der Sinti und Roma. Die Grundlage dafür bildete das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1934., Inhaftierung und FolterTortur Andere Bezeichnung für "Folter", „Quälerei“ oder „Strapaze“. waren die Vorstufe des massenhaften Todes in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis.
Von in Frankfurt am Main lebenden Roma und Sinti wurden 172 Personen in ‚Zigeunerlagern‘ in der Diesel- und Kruppstraße interniert, 8 Personen zwangssterilisiert, 174 Personen nach Auschwitz deportiert und mindestens 89 Roma und Sinti dort ermordet.
Ab 1947 waren zwei maßgeblich an ‚rassenbiologischen Untersuchungen‘ beteiligte Personen, Robert Ritter und Eva Justin, im Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main in leitender Funktion beschäftigt. Sie wurden für ihre Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen. Die beiden Namen stehen stellvertretend für diejenigen, die unter dem Deckmantel von Wissenschaft und Forschung oder durch Wegsehen und Schweigen den VölkermordVölkermord Bezeichnung für die vorsätzliche Ermordung, Ausrottung oder anderweitige Vernichtung von Volksgruppen aufgrund ihrer vermeintlich rassischen, ethnischen oder sozialen Merkmale, ihrer Nationalität oder religiösen Überzeugungen. 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen einen völkerrechtlichen Vertrag über die Verhütung und die Bestrafung von Völkermorden. an Roma und Sinti ermöglichten.
In Achtung vor den Opfern, als Erinnerung, Mahnung und Verpflichtung."

Entstehung

Die Anbringung der Gedenktafel wurde maßgeblich von der Roma-Union und dem Förderverein Roma (beide mit Sitz in Frankfurt) sowie dem Hessischen Landesverband Deutscher Sinti und Roma initiiert. Finanziert wurde die Tafel allein durch private Spendengelder. Über zehn Jahre dauerte die Auseinandersetzung um die Realisierung der Tafel mit der städtischen Verwaltung und Politik. Die Mehrheit des zuständigen Ortsbeirates für die Alt- und Innenstadt, das Kulturdezernat der Stadt sowie das Institut für Stadtgeschichte verweigerten noch bis Ende der 1990er Jahre ihre Zustimmung, die bereits angefertigte Gedenktafel an der Fassade des Gebäudes befestigen zu lassen.

Begründet wurde dies mit der namentlichen Nennung von Robert Ritter und Eva Justin als Täter*innen. Ihre Persönlichkeitsrechte sollten gewahrt werden. Argumentiert wurde u.a. mit einer angeblich „unsicheren“ Beweislage der Mitverantwortung des Völkermords an den Sinti und Roma seitens Ritter und Justin. Weitere Argumente kritisierten eine vermeintliche Gleichstellung des Nationalsozialismus mit der Nachkriegszeit durch die Inschrift, die ungewollte Möglichkeit der Vereinnahmung des Gedenkortes durch Neonazis und Rechtsextreme und die Tatsache, dass Ritter und Justin während der NS-Zeit von Berlin und nicht von Frankfurt aus an der Verfolgung von Sinti und Roma mitgewirkt hatten. Die Chance für die Stadtgesellschaft, an einem historischen Täter*innen-Ort sowohl der Opfer zu gedenken als dabei auch Verantwortlichkeiten und Kontinuitäten zu benennen und aufzuzeigen, wurde demgegenüber nicht anerkannt.

Aus Sicht der Roma-Union stellte die Namensnennung der Täter*innen einen Akt gegen das Vergessen dar. Die Tafel sollte bewusst auf die NS-Verbrechen, die historische Bedeutung des Ortes wie auch die dort agierenden Verantwortlichen verweisen und zur historischen Verantwortung gegenüber der Minderheit der Sinti und Roma auffordern. So betonte auch Hans-Georg Böttcher, der damalige Geschäftsführer der Roma-Union und Überlebender der NS-Verfolgung, in seiner Ansprache bei der Einweihung der Tafel: „Die Anbringung der Mahn- und Gedenktafel am Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main […] soll nicht die Lücke schließen, sondern vielmehr die Tür öffnen für weitere notwendige dokumentierte Erinnerung und Auseinandersetzung.“

In den 1930er Jahren erstellten die NS-„Rassenforscher*innen“ Ritter und Justin mit ihren pseudowissenschaftlichen Untersuchungen in der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ des Reichgesundheitsamtes in Berlin rund 24.000 sogenannter „Gutachten“. Mit ihnen wurden Sinti und Roma „rassifiziert“ und registriert. Sie lieferten damit die Legitimationsgrundlage für die systematische Kriminalisierung, Inhaftierung, DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet. und schließlich den Völkermord an rund 500.000 Männern, Frauen und Kindern. Bereits 1947 übernahm Robert Ritter als Psychiater die Leitung der „Ärztlichen Jugendhilfestelle“ des Stadtgesundheitsamtes. Seine langjährige Mitarbeiterin Eva Justin wurde 1948 als Psychologin dort angestellt. Beide setzten  nach dem Zweiten Weltkrieg die Kriminalisierung und Diskriminierung von Sinti und Roma weiter fort. Ermittlungsverfahren, die zwischen 1948 und 1950 gegen Ritter und zwischen 1958 bis 1960 gegen Justin von der Staatsanwaltschaft Frankfurt eingeleitet wurden, hatten keine strafrechtlichen Konsequenzen. Die Beschäftigung der beiden und die folgenlosen Ermittlungsverfahren sind ein drastisches Beispiel für die aus der NS-Zeit in die Bundesrepublik reichenden personellen und ideologischen Kontinuitäten wie auch die Leugnung des Völkermords an den Sinti und Roma und den fortbestehenden Antiziganismus.

Am 27. Januar 2000 konnte die Tafel schließlich im Rahmen einer Gedenkveranstaltung zum 55. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz eingeweiht werden. Zuvor hatte sie ein symbolisches „Asyl“ in der katholischen Kirchengemeinde St. Gallus erhalten.

Das Gebäude des ehemaligen Stadtgesundheitsamtes wurde inzwischen vom Börsenverein des deutschen Buchhandels gekauft und wird nach umfassenden Baumaßnahmen seit 2009 als Geschäftssitz und Restaurant genutzt. Im Zuge der Sanierungsmaßnahmen war die Gedenktafel im Jahr 2009 kurzzeitig verschwunden. Im Vorfeld der Bauarbeiten forderten die Roma-Union und der Förderverein Roma, die Gedenktafel nach dem Abschluss der Bauarbeiten wieder an ihrem ursprünglichen Ort anzubringen, was auch vertraglich festgelegt wurde. Im Mai 2010 teilten die neuen Eigentümer des Gebäudes mit, dass die Tafel im Zuge der Bauarbeiten nicht abmontiert, sondern gestohlen worden sei. Sie sicherten jedoch zu, die Kosten für die Reproduktion und Anbringung einer neuen Tafel zu übernehmen. Die zunächst als gestohlen gemeldete Tafel tauchte zwei Wochen später wieder auf: Sie war vom Amt für Kultur in Verwahrung genommen worden und konnte für die Zeit der Umbau- und Sanierungsarbeiten in der Geschäftsstelle des Fördervereins Roma ausgestellt werden. Am 27. Januar 2012 wurde die Gedenktafel schließlich wieder am historischen Ort angebracht, allerdings linkerhand vom ehemaligen Haupteingang versetzt.

Heute steht die Tafel regelmäßig im Mittelpunkt von Gedenkveranstaltungen, die vom Förderverein Roma organisiert werden: zur Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar, zum Gedenken an die „LiquidierungLiquidierung Liquidierung bedeutet "Beseitigung“ oder „Zerstörung“. Im NS-Sprachgebrauch war damit die Ermordung von Menschen (u.a. von Insassen eines Gettos oder Lagers) gemeint.“ des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz am 2. August sowie am 16. Dezember zur Erinnerung an den Erlass zur Deportation der Sinti und Roma nach Auschwitz. Die einst so vehement umstrittene Gedenktafel ist somit zu einem lebendigen Ort der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geworden.

Gestaltung

Die Bronzetafel wurde vom Steinmetz und Bildhauer Uwe Risch angefertigt. Er lebt und arbeitet in Friedrichsthal bei Saarbrücken und gestaltete auch Gräber von NS-Überlebenden Sinti und Roma auf dem Hauptfriedhof in Frankfurt.

Quellenangaben

Archiv Dokumentations- und Kulturzentrum, Heidelberg: Sammlung Gedenkorte

Förderverein Roma:
Rede zur Anbringung der Mahntafel am Stadtgesundheitsamt am 27. Januar 2000 am 8.9.2020
Pressemeldung vom 20.5.2010 „Verschwundene Mahntafel wieder aufgetaucht“ am 8.9.2020
Presseerklärung vom 8.5.2010 Mahn- und Gedenktafel am ehemaligen Stadtgesundheitsamt gestohlen am 8.9.2020

Langer Streit um Namen der Täter, Frankfurter Rundschau vom 28.1.2000

Sandner, Peter: Frankfurt - Auschwitz. Die nationalsozialistische Verfolgung der Sinti und Roma in Frankfurt am Main, Bd. 4. Frankfurt/Main 1998.

Wir danken Maja Kliem für die Unterstützung und die Erlaubnis zur Nutzung der Fotoaufnahmen.

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