Beschreibung
Die Gedenkstätte Ahlem befindet sich rund fünf Kilometer westlich vom Stadtzentrum und vom Hauptbahnhof entfernt und ist mit der Straßenbahn (Haltestelle Ehrhartstraße) direkt erreichbar.
Der den während der NS-Zeit verfolgten Sinti und Roma gewidmete Gedenkstein befindet im hinteren, nord-westlichen Bereich des Außengeländes, in verlängerter Sichtachse der „Wand der Namen“ und westlich des markierten Standortes der als Hinrichtungsort genutzten einstigen Laubhütte.
Die Inschrift des Gedenksteins zitiert den biblischen Psalm 7,2 und lautet:
„Herr mein Gott, bei dir suche ich Schutz! Rette mich vor meinen Verfolgern, hilf mir – sonst reissen sie mir wie Löwen die Kehle durch. Und niemand kann mich ihnen entreissen!
Jede Menschenseele, die das Böse uns geraubt hat, soll für uns, den Nieders. Verband Deutscher Sinti, unvergesslich sein. Durch Gottes Gnaden“
Im Rahmen der Neugestaltung und gestalterischen Aufwertung im Jahr 2023 wurde der bis dahin ebenerdig liegende Gedenkstein auf einem Sockel platziert und um eine Informationstafel ergänzt. Sie kontextualisiert die Bedeutung des Gedenksteins. Neben neugeschaffenen Sitzmöglichkeiten wurde auch die Wegeführung bis unmittelbar vor den Gedenkstein erweitert. Der Text der Informationstafel lautet:
„Der erste Gedenkort an den Porajmos in Hannover
Am 3. März 1995 übergaben hohe Repräsentant*innen des Landesverbandes der deutschen Sinti und der Politik in Hannover und Niedersachsen diese durch Spenden finanzierte Gedenkplatte auf dem Gelände der Gedenkstätte in Ahlem erstmals ihrer Bestimmung. Erst 1982 hatte die Bundesrepublik Deutschland die nationalsozialistischen Verbrechen an den Sinti und Roma – den Porajmos (Romanes) als VölkermordVölkermord Bezeichnung für die vorsätzliche Ermordung, Ausrottung oder anderweitige Vernichtung von Volksgruppen aufgrund ihrer vermeintlich rassischen, ethnischen oder sozialen Merkmale, ihrer Nationalität oder religiösen Überzeugungen. 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen einen völkerrechtlichen Vertrag über die Verhütung und die Bestrafung von Völkermorden. anerkannt. Seit den 1970er Jahren kämpfte die Bürgerrechtsbewegung, darunter viele Überlebende der NS-Gewalt, gegen die andauernde eigenen Diskriminierung. Die Gedenkplatte wurde aufgewertet und am 3. März 2023 an diesem Ort erneut eingefügt. Sie dient ungebrochen als Zeichen der Erinnerung und als Aufruf gegen rassistische Diskriminierung, nicht nur gegenüber Sinti und Roma!“
Entstehung
Die Gedenkstätte Ahlem entstand auf einem Teil des ehemaligen Geländes der 1893 gegründeten Israelitischen Gartenbauschule Ahlem. Zu Beginn des Nationalsozialismus bot die Schule noch einen Schutz für die jüdischen Schülerinnen und Schüler und verhalf ihnen zur Auswanderung, vor allem nach Palästina. Im Herbst 1941 wurden das Gelände und die Gebäude dann jedoch zur zentralen Sammelstelle bei der DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet. jüdischer Menschen aus den damaligen Regierungsbezirken Hannover und Hildesheim. Bis Januar 1944 wurden ca. 2.200 Männer, Frauen und Kinder von hier aus und über den Bahnhof Fischerhof in Hannover-Linden in Ghettos und Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Seit dem Herbst 1943 nutzte die Gestapo das Direktorenhaus zudem als Außenstelle, im Haupthaus wurde im Juli 1944 ein Polizeiersatzgefängnis eingerichtet. In der Endphase des Krieges fanden auf dem Gelände Hinrichtungen statt.
In Trägerschaft des Landeskreises Hannover wurde 1987 die Gedenkstätte Ahlem mit einer ersten Ausstellung im Kellergeschoss des ehemaligen Direktorenhauses eröffnet. Nach einer Neukonzeption und einem Um- und Neubau wurde sie im Jahr 2014 stark erweitert als zentraler Lern- und Erinnerungsort der Region Hannover eingeweiht. Auch wenn der historische Ort primär mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung verknüpft war, nahm die Gedenkstätte bald auch eine wichtige Rolle in der Erinnerungskultur an den Völkermord an den Sinti und Roma ein. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass in der Stadt Hannover viele Jahr lang kein vergleichbarer Erinnerungsort existierte. Heute ist die Gedenkstätte traditionell Gedenkort für die Opfer des Nationalsozialismus und richtet in jedem Jahr eine Gedenkveranstaltung an die Verfolgung der Sinti und Roma in enger Kooperation mit den Selbstorganisationen der Sinti in Hannover aus.
Der Gedenkstein war das erste Erinnerungszeichen an den Völkermord an den Sinti und Roma in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover. Er geht zurück auf das Engagement des Niedersächsischen Verbands Deutscher Sinti und namentlich von Berta Weiss und Regardo Rose. Beide führten eine Spendensammlung durch, die schließlich die Realisierung der Gedenktafel ermöglichte. Anlässlich des 52. Jahrestages der Deportation der Hannoveraner Sinti fand seine Einweihung in Anwesenheit des niedersächsischen Kultusministers Dr. Rolf Wernstedt und des Hannoveraner Oberbürgermeisters Herbert Schmalstieg statt. Enthüllt wurde der Gedenkstein von Berta Weiss und Werner Fahrenholz, zwei überlebenden Sinti aus Hannover.
Bei der Neugestaltung der Gedenkstätte Ahlem und ihrer Außenanlagen wurde der Gedenkstein aus dem vorderen Bereich der Gedenkstätte an den hinteren Rand des Areals verlegt. Aufgrund seiner unscheinbaren ebenerdigen Platzierung entzog sich der Gedenkstein bald der Wahrnehmung der Besucherinnen und Besucher. Samantha Rose, die Tochter von Regardo Rose und aktive Bürgerrechtlerin für Sinti und Roma in Hannover, initiierte schließlich gestalterische Maßnahmen, um dem erinnerungskulturell bedeutsamen Zeichen einen würdigen und öffentlich wahrnehmbaren Rahmen zu verleihen. Der Gedenkstein wurde gereinigt und die Inschrift wieder gut lesbar gemacht. Zudem wurde der Stein auf einem Sockel platziert und um eine Informationstafel zum historischen Kontext ergänzt. Letztendlich wurde auch die Wegeführung auf dem Außengelände der Gedenkstätte erweitert, um den Gedenkstein stärker einzubinden und öffentlich sichtbarer zu machen.
Die Einweihung dieses neugestalteten Erinnerungsortes fand anlässlich des 80. Jahrestag der Deportation der Hannoveraner Sinti im Anschluss an eine zentrale Gedenkfeier am 3. März 2023 statt. Dabei waren Regionspräsident Steffen Krach, Belit Onay, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Hannover, und Dr. Elke Gryglewski, Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, mit Grußworten vertreten. Die Gedenkrede hielt Mario Franz, Vorstand des Niedersächsischen Verbands Deutscher Sinti. Die anschließende Enthüllung der Gedenktafel nahm Samantha Rose vor, die mit dieser besonderen Geste eindrucksvoll die Weiterführung des Engagements ihres Vaters zum Ausdruck brachte. In einem Interview im November 2022 berichtete sie, warum es ihr besonders wichtig ist, beide Erinnerungszeichen für Sinti und Roma auf dem Gelände des Gedenkstätte Ahlem in Beziehung zueinander zu setzten:
„Und es wird eine zusätzliche Tafel entstehen, auf dem die Entstehungsgeschichte des Steins zu lesen sein wird, damit eben Menschen, die nicht an dem Entstehungsprozess teilgenommen haben, erfahren können, warum und weshalb der Stein hier liegt, wie er initiiert worden ist. Es geht auch darum, noch einmal sichtbar zu machen, dass dies der erste Stein war und, dass er aus Spenden finanziert wurde. Wenn wir hier aufs Gelände schauen, haben wir ja vorne im Eingangsbereich das zweite Erinnerungszeichen, was komplett finanziert worden ist von der Region Hannover. Es ist wichtig, einfach auch noch einmal den Kontrast zu zeigen: 1994 mussten wir noch um unsere Rechte kämpfen, es aus eigener Kraft schaffen, um dann 2018 von der Region Hannover gewürdigt zu werden. Di zeigt auch nochmal, wie sich die Wahrnehmung verändert hat und auch das Verantwortungsgefühl gegenüber Sinti und Roma hier an diesem Ort über Sinti und Roma.“
Quellenangaben
Archiv Dokumentations- und Kulturzentrum, Heidelberg: Sammlung Gedenkorte
Benne, Simon: „Bewegendes Gedenken an neuer Tafel in Ahlem“, in: Stadt-Anzeiger West vom 9.3.2023.
Gedenkstein für ermordete Sinti, in: Mitteilungsblatt Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland Mai 1995, Hamburg 1995
Homeyer, Friedel: 100 Jahre Israelitische Erziehungsanstalt – Israelitische Gartenbauschule 1893-1993, Mahn- und Gedenkstätte des Landkreises Hannover in Ahlem, Hannover 1993
Niedersächsischer Verband Deutscher Sinti e.V. (Hrsg.): Aus Niedersachsen nach Auschwitz. Die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit, Bielefeld 2004
Obenaus, Herbert: „Sei stille, sonst kommst Du nach Ahlem!“: Zur Funktion der Gestapostelle in der ehemaligen Israelitischen Gartenbauschule von Ahlem (1943-1945), Kulturinformation Band 16 der Landeshauptstadt Hannover, Hannover 1988
Schmid, Hans-Dieter Schmid, Marlis Buchholz u.a. (Hrsg.): Ahlem. Die Geschichte einer jüdischen Gartenbauschule und ihres Einflusses auf Gartenbau und Landschaftsarchitektur in Deutschland und Israel, Bremen 2008
Interview von Andreas Pflock (Dokuzentrum Heidelberg) mit Andreas Mischok (Gedenkstätte Ahlem) am 22.11.2022
Interview von Andreas Pflock (Dokuzentrum Heidelberg) mit Samantha Rose (Forum für Sinti und Roma e.V.) am 22.11.2022
Wir danken Samantha Rose (Forum für Sinti und Roma e.V.) und Andreas Mischok (Gedenkstätte Ahlem) für die freundliche Unterstützung. Helena Jacobs (Hannover) danken wir für die Anfertigung der Fotografien und die freundliche Nutzungserlaubnis.