Marburg, Barfüßerstraße

Gedenktafel für die aus Marburg und Umgebung deportierten und ermordeten Sinti und Roma
  • Ehemaliges Landratsamt, heute Bauamt, in der Marburger Altstadt (Foto: Andreas Pflock)
  • Fassade mit Haupteingang, rechts davon die Gedenktafel (Foto: Andreas Pflock)
  • Gedenktafel an der Hausfassade (Foto: Andreas Pflock)
  • Detailansicht der Inschrift (Foto: Andreas Pflock)
  • Gedenktafel an der Hausfassade (Foto: Andreas Pflock)

Kurzinformation

Gedenktafel für die aus Marburg und Umgebung deportierten und ermordeten Sinti und Roma

Beschreibung

Die Gedenktafel befindet sich in der Marburger Oberstadt und wurde an der Fassade des heute vom Bauamt genutzten alten Landratsamtes angebracht, das im Jahr 1943 als Sammelort für die DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet. genutzt worden war. Die Inschrift lautet:

„Am 23. März 1943 wurden Sinti aus Marburg und Umgebung in das KonzentrationslagerKonzentrationslager Konzentrationslager (kurz: KZ oder KL) waren das wichtigste Instrument der NS-Terrorherrschaft. Erste Lager entstanden schon im März 1933, kurz nach der Machtübernahme der NSDAP, anfangs noch in u.a. leeren Fabrikgebäuden, ehemaligen Gefängnissen und Kellergewölben. Bis Kriegsbeginn wurden sieben Konzentrationslager errichtet, bis Ende des Krieges waren es 22 Hauptlager mit weit über 1.000 Außenlagern und Außenkommandos. Alle, die von den Nationalsozialisten zu weltanschaulichen, religiösen und „rassischen“ Gegnerinnen und Gegnern erklärt worden waren, sollten dort inhaftiert werden. Darunter befanden sich vor allem Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Kommunisten, Sozialisten und andere politische Gegner. Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Haftbedingungen weiter und die Ermordung der Gefangenen wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Arbeitskraft der Häftlinge sollte bis zur völligen Erschöpfung oder bis zum Tod für die Kriegswirtschaft ausgenutzt werden. Die SS bezeichnete dies als "Vernichtung durch Arbeit". Auschwitz deportiert. Viele von ihnen wurden ermordet. Mit ihnen fielen über 500.000 europäische Sinti und Roma dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer. Wir gedenken der Ermordeten und mahnen die Lebenden, der Unmenschlichkeit rechtzeitig entgegenzutreten. Der Magistrat der Universitätsstadt Marburg am 23. März 1993."

Entstehung

Die Anbringung der Gedenktafel geht auf die Initiative des Hessischen Landesverbands Deutscher Sinti und Roma und Marburger Sinti zurück. Nachdem diese im August 1990 ergebnislos beim Oberbürgermeister Hanno Drechsler (SPD) die Schaffung eines Erinnerungszeichens gefordert hatten, fand am 14. Januar 1991 eine erste öffentliche Diskussionsveranstaltung mit Adam Strauß, dem Vorsitzenden des Landesverbands, statt. Zu ihr waren Bürger*innen und die städtische Politik eingeladen worden. Adam Strauß lehnte dabei die vonseiten des Oberbürgermeisters angestrebte Schaffung eines Denkmals für „alle Opfer von Krieg und Gewalt“ ab und kritisierte: „Es ist ein Skandal, dass Opfer und Täter auf eine Ebene gestellt werden sollen. Dem unerträglichen Zynismus der SPD muss ein Ende gemacht werden.“ Während Vertreter*innen von SPD und CDU der Veranstaltung fernblieben, erhielt das Anliegen politische Unterstützung von den Grünen und der Unabhängigen Linken.

Durch einen vom Landesverband für die Marburger SPD durchgeführten Workshops kam schließlich Bewegung in den politischen Diskussionsprozess. Am 19. Dezember 1991 stellte die SPD-Fraktion in der Stadtverordneten-Versammlung den Antrag, eine Gedenktafel anzubringen. Der Antrag wurde von den Faktionen der Grünen, der CDU, der Bürger für Marburg und der DKP einstimmig angenommen, so dass folgender Beschluss gefasst werden konnte: „Der Magistrat wird beauftragt, an geeigneter Stelle eine Gedenktafel für Sinti und Roma, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, anzubringen. Der Inhalt der Inschrift ist mit den ortsansässigen Sinti und dem Verband der Sinti und Roma Deutschland, Landesverband Hessen, abzustimmen.“ Die Frankfurter Rundschau hielt treffend in einem Bericht am 27. Dezember 1991 dazu fest: „Ein erstaunlich unaufgeregtes Ende für ein Stück, dass mit viel Theaterdonner angefangen hatte.“

Als Ort für die Gedenktafel wurde die Fassade des als Bauamt genutzten alten Landratsamtes in der Marburger Oberstadt gewählt. Dort im Keller waren die 78 in Marburg und Umgebung verhafteten Männer, Frauen und Kinder vor ihrem Abtransport gesammelt worden. Die Mitglieder der Marburger Geschichtswerkstatt unterstützten das Gedenken an die Deportierten und trugen erstmals historische Informationen über die Verfolgung der Marburger Sinti zusammen. Am 50. Jahrestag der Deportation wurde die Gedenktafel gemeinsam von Bürgermeister Gerhard Pätzold und Adam Strauß enthüllt. Vorausgegangen war eine Gedenkfeierlichkeit mit rund 80 Gästen im Sitzungssaal des Bauamtes.

Seit der Einweihung der Tafel ist die Erinnerung an die Deportierten zum festen Bestandteil der städtischen Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus geworden. Im September 1997 regte die Fraktion der PDS – Marburger Linke an, eine wiederkehrende jährliche Gedenkfeier für die deportierten Sinti in der städtischen Erinnerungskultur zu verankern. Die Stadtverordneten-Versammlung beschloss daraufhin im Februar 1998 ein jährliches Gedenken am 23. März, das seitdem gemeinsam von der Stadt und dem Landesverband organisiert wird. Im Jahr 1998 erschien auch die vom Historiker Udo Engbring-Romang und Adam Strauß herausgegebene Dokumentation zur Verfolgung der Marburger Sinti. Als wichtiger Meilenstein in der Kooperation zwischen der Stadt Marburg und dem Landesverband der Sinti und Roma wurde am 14. Oktober 2005 zwischen beiden Parteien ein Vertrag abgeschlossen, der als Kernaufgaben den Schutz vor Diskriminierung, die Herstellung von Chancengleichheit sowie die Förderung der kulturellen Bedürfnisse der Sinti und Roma vereinbarte.

Anlässlich des Gedenkens am 23. März 2020 betonte Adam Strauß: „In der heutigen Zeit, in der rechte Hetze und rechte Gewalt wieder zunehmen, ist es die gemeinsame Verpflichtung aller Demokrat*innen, sich jeglichem RassismusRassismus Rassismus ist eine Form von Diskriminierung, bei der Menschen nicht als Individuen, sondern als Teil einer einheitlichen Gruppe mit bestimmten (meist negativen) Merkmalen und Charaktereigenschaften angesehen werden. Durch Rassismus wurden und werden Menschen aufgrund der realen oder vorgestellten Zugehörigkeit (beispielsweise zu einer Volksgruppe, Nationalität etc.) oder aufgrund äußerer Merkmale, einer bestimmten Religion oder Kultur vorverurteilt, ausgegrenzt, benachteiligt, unterdrückt, gewaltsam vertrieben, verfolgt und ermordet. in den Weg zu stellen.“ Eindringlicher kann die Botschaft der Gedenktafel an unsere heutige Gesellschaft nicht sein.

Quellenangaben

Archiv Dokumentations- und Kulturzentrum, Heidelberg: Sammlung Gedenkorte

Oberhessische Presse vom 14.1.1991: Sinti fordern ein Denkmal in Marburg
Stadt Marburg, Pressemeldung vom 25.3.2020: Erinnerung an Opfer des NS-Regimes

Engbring-Romang, Udo/Strauß, Adam (Hrsg.): Marburg. Auschwitz. Zur Verfolgung der Sinti in Marburg und Umgebung, Marburg 1998.

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