Neumünster, Haart

Gedenktafel für die aus Neumünster deportierten Sinti und Roma
  • Blick auf die Gedenktafel (Foto: Stadt Neumünster)
  • Gesamtansicht des Gedenkorts (Foto: Stadt Neumünster)
  • Lage der Gedenktafel vor dem ehemaligen Sammelort der Deportation (Foto: Stadt Neumünster)
  • Namen der Deportierten und symbolisches Häftlingsdreieck (Foto: Stadt Neumünster)
  • Blick vom Gehweg auf die Gedenktafel (Foto: Stadt Neumünster)

Kurzinformation

Gedenktafel für die aus Neumünster deportierten Sinti und Roma

Beschreibung

Die Gedenktafel befindet sich zwischen dem historischen Stadtkern und dem die Innenstadt umgebenden Sachsenring, süd-östlich der Stadtmitte und etwa 200 Meter nördlich des Friedrich-Ebert-Krankenhauses. In den Räumen der heutigen Diskothek Bumer befand sich das Lokal „Captain Cook“, welches am 16. Mai 1940 als Sammelort bei der DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet. der Neumünsteraner Sinti und Roma in das Zwangsarbeitslager Belzec diente.

Die 1,8 Meter hohe, 1 Meter breite und vier Millimeter starke Stahltafel steht auf einem Grünstreifen zwischen zwei Linden und auf einer gepflasterten Fläche. Diese wird durch ein horizontal verlaufendes stählernes Band geteilt. Es steht für den Weg des Leids, den die Deportierten gehen mussten. Zugleich symbolisiert es aber auch die Spur, die bis in die Gegenwart reicht und weist auf die Verantwortlichkeit für das geschehene Unrecht hin. Eine Laser-Konturinschrift der Stahltafel ist vom Bürgersteig aus lesbar und von der Straßenseite aus spiegelbildlich zu sehen. Sie zählt die Namen und Lebensdaten der insgesamt 39 Deportierten auf und lautet:

„Am 16. Mai 1940 wurden von hier aus Sinti und Roma aus Neumünster in das Zwangsarbeitslager Belzec deportiert. Viele von ihnen verloren dort ihr Leben.

Rigobert Herzberger 19.7.1930
Soni Kaikoni 29.9.1928
Karli Kaikoni 30.10.1932
Lilli Kaikoni 14.3.1937
Hans Kaikoni 10.5.1939
Johannes Kaikoni 17.12.1899
Michael Kaikoni 4.10.1863
Elisabeth Kaikoni 24.8.1897
Maria Kaikoni 2.1.1902
Elisabeth Kaikoni 1.9.1926
Marianne Laubinger 30.3.1916
Meltoma Laubinger 26.9.1918
Johann Laubinger 30.1.1922
Robert Laubinger 10.3.1906
Anna Laubinger 28.4.1908
Andreas Laubinger 2.7.1905
Fredi Laubinger 9.9.1924
Anni Laubinger 5.8.1928
Maria Laubinger 21.2.1903
Otto Laubinger 21.7.1928
Viktoria Mirosch 27.12.1926
Rudolf Mirosch 5.6.1929
Anuschka Mirosch 28.8.1919
Josef Mirosch 20.2.1868
Heini Korpatsch (Otto) 8.7.1929
Dunga Korpatsch (Otto) 9.1.1905
Saga Goy (Mirosch) 10.2.1880
Elisabeth Otto 24.12.1929
Stefan Otto 28.3.1893
August Stephan (Otto) 4.6.1934
Erika Stephan (Otto) 29.6.1932
Hulda Thormann 5.11.1900
Fred Thormann 14.12.1936
Alwine Weiß 5.7.1904
Arno Thormann 24.12.1923
Erna Thormann 2.6.1925
Helmut Thormann 10.5.1929
Jonny Thormann 30.3.1935
Maria Magdalena Weiß 26.11.1864
Sorgt, die ihr im Leben steht, dass einer den anderen achte!“

Mittig zwischen den Lebensdaten befindet sich ein auf den Kopf gestelltes Dreieck, das an den Häftlingswinkel erinnert, den Sinti und Roma in den Konzentrationslagern an ihrer Kleidung tragen mussten. Der abschließende und auffordernde Sinnspruch ist an ein Zitat des Bundespräsidenten Theodor Heuss angelehnt.

Entstehung

Die Gedenktafel geht auf die Initiative des Hobby-Historikers und Vorstandsmitglieds des „Vereins für Toleranz und Zivilcourage e.V. Neumünster“ Ingo Schumann zurück. Im Jahr 2013 begegnete er dem Sinto Otto Laubinger und erfuhr bei einem persönlichen Gespräch von dessen Verfolgung und von der Deportation der Sinti und Roma aus Neumünster. Ingo Schumann entschloss sich, an diesen bisher verdrängten Teil der Stadtgeschichte zur erinnern. Er recherchierte die Namen und Lebensdaten der insgesamt 39 Deportierten. Seine Rechercheergebnisse dienten schließlich im Jahr 2014 als Grundlage für den Vorschlag des „Runden Tisches für Toleranz und Demokratie Neumünster“, ein Denkmal zur Erinnerung an die deportierten Männer, Frauen und Kinder zu schaffen. In den folgenden Jahren ließen Überlegungen zur Verlegung von Stolpersteinen für verfolgte und ermordete Sinti und Roma den Vorschlag zur Errichtung einer Gedenktafel in den Hintergrund treten. Vorbehalte von Opfer-Angehörigen gegenüber dem Konzept der Stolpersteine führten jedoch dazu, dass die ursprüngliche Idee eines Denkmals bzw. einer Gedenktafel wieder aufgegriffen wurde.

Bei einer Ratsversammlung am 13. Februar 2018 stellte schließlich die SPD-Fraktion auf Initiative des „Runden Tisches“ einen Antrag für die Errichtung einer Gedenktafel im Haart 38 zur Diskussion und Beschlussfassung. Nachdrücklich gegen die Errichtung einer eigenen Gedenkstätte für eine bestimmte von den Nationalsozialisten ermordete Volksgruppe sprach sich die FDP-Ratsfraktion aus. Sie reagierte mit der Einbringung eines Änderungsantrags und der Bitte um einen Vorschlag für eine „angemessene und würdige Gedenkstätte für alle unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft ermordeten Menschen, gleich welcher Herkunft, RasseRasse "Rasse" ist eine Kategorie aus der Biologie, die Lebewesen anhand ihrer Verwandtschaft zu Gruppen zusammenfasst. Vor allem im 19. und im frühen 20. Jahrhundert stellten Wissenschaftler Theorien auf, dass die Menschen biologisch in mehrere "Rassen" unterteilt werden und als höher- oder minderwertiger eingestuft werden könnten. Wissenschaftlich ist längst bewiesen, dass es keine unterschiedlichen menschlichen "Rassen" gibt. Im gesellschaftlichen Denken spielt die Vorstellung von vermeintlich biologischer Höher- oder Minderwertigkeit bestimmter Menschengruppen jedoch nach wie vor eine Rolle und bildete die Basis für Rassismus., welcher Religion, welcher politischen oder weltanschaulichen Überzeugung, welcher sexuellen Orientierung und welcher ethnischen Zugehörigkeit“. Reinhard Ruge, Vorsitzender der FDP-Ratsfraktion merkte kritisch an: „Wollen wir ernsthaft im nächsten Jahr diskutieren, ob es nicht auch Gedenkstätten für ermordete Homosexuelle, für Oppositionelle, für Menschen mit geistiger Behinderung geben soll? Wollen wir das ernsthaft tun?“ (Freies Radio Neumünster, 16.02.2018)

Beide Anträge wurden jedoch nicht beschieden, sondern von der Ratsversammlung mit der Bitte um weitere Prüfung und Stellungnahme an den „Runden Tisch“ verwiesen. Dort brachte Ingo Schumann den Vorschlag ein, das Gedenken am historischen Sammelort der Deportation zu verankern. Nach der Ausarbeitung einer detaillierten Vorlage für die weiteren Entscheidungsprozesses und einem Ortstermin mit allen Beteiligten (Ämter, Angehörige, Initiatoren) im Juni 2019 legte der „Runde Tisch“ am 30. September den Ort und die Gestaltungform der Gedenktafel sowie die Herausgabe einer begleitenden Broschüre fest.

Am 17. Dezember 2019 stimmte die Ratsversammlung schließlich mit 33 zu 5 Stimmen für die Errichtung der Gedenktafel. Vorausgegangen war eine Konsultation des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma und dessen Zustimmung zu dem Vorhaben. In der Ratsversammlung erklärte Ratsfrau Sabine Krebs (CDU): „Insgesamt wurden europaweit etwa eine halbe Million Sinti und Roma ermordet und 1985 offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Wie der VölkermordVölkermord Bezeichnung für die vorsätzliche Ermordung, Ausrottung oder anderweitige Vernichtung von Volksgruppen aufgrund ihrer vermeintlich rassischen, ethnischen oder sozialen Merkmale, ihrer Nationalität oder religiösen Überzeugungen. 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen einen völkerrechtlichen Vertrag über die Verhütung und die Bestrafung von Völkermorden. an den Juden ist auch die Ermordung von Sinti und Roma aus Motiven des Rassenwahns und mit dem gleichen Vorsatz zur planmäßigen Vernichtung durchgeführt worden. Mit dem Bestreben die Opfer vor dem Vergessen zu bewahren, aber auch mit Blick auf die Gegenwart hat der ‚Runde Tisch für Toleranz und Demokratie‘, für den ich hier auch spreche, den Antrag zur Errichtung einer Gedenktafel gestellt. […] Der Aufstellungsort am Haart 38 ist, nach dem Vorbild der Stolpersteine, der Ort des Geschehens und lässt uns stolpern oder anstoßen. Für die so wichtige und mahnende Aussage einer solchen Gedenktafel steht der Ausspruch des Bundespräsidenten Theodor Heuss: Sorgt die ihr im Leben steht, dass einer den anderen achte." (Freies Radio Neumünster, 19.12.2019)

Die Ratsfraktionen von FDP und vom Bündnis für Bürger (BfB) lehnten die Errichtung eines Gedenkortes explizit für Sinti und Roma ab und forderten weiterhin eine Gedenktafel für alle von den Nationalsozialisten Verfolgten. Bei der Ratsversammlung äußerte FDP-Ratsherr Peter Janetzky dazu: „Wir begrüßen die Erinnerungskultur an alle Verfolgten. Wir werden dem Antrag aber trotzdem nicht zustimmen. Warum? Es hat weitaus mehr verfolgte Gruppen gegeben als wir Erinnerungssteine haben. Wir halten die Herausnahme einzelner verfolgter Gruppen für falsch.” (Freies Radio Neumünster, 19.12.2019)

Mit der Anfertigung der Gedenktafel wurde der Kunstschmied Kurt Lange beauftragt. Beraten wurde er dabei von der Stadtverwaltung, Ingo Schumann sowie dem Landesverband Deutscher Sinti und Roma. So entstand in einem über sechs Jahre andauernden Prozess ein Gedenkzeichen, dessen Einweihung am 16. Mai 2020, genau 80 Jahre nach der Deportation, vorgesehen war. Aufgrund der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie musste die Feierstunde jedoch auf das Jahr 2021 verschoben werden. Schließlich enthüllten am 15. Mai 2021 Stadtrat Carsten Hillgruber und Matthäus Weiß, Vorsitzender des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma, in Anwesenheit der Presse gemeinsam die Gedenktafel. Eine öffentliche Veranstaltung war auch zu diesem Zeitpunkt pandemiebedingt nicht möglich.

Am 22. August 2021 konnte die offizielle öffentliche Feierstunde mit Ansprachen von Stadträtin Anna-Katharina Schättiger, Landesverbandsvorsitzendem Matthäus Weiß, Henning Möbius und Ingo Schumann als Vertreter des „Runden Tisches für Toleranz und Demokratie“ nachgeholt werden. Bei einem anschließenden Empfang im Garten des Caspar-von-Saldern-Hauses sprachen der Erste Stadtrat Carsten Hillgruber und Jonny Laubinger. Musikalisch wurde die Feierstunde vom Le Swingtet Manouche umrahmt. Jonny Laubinger, dessen Vater und Großeltern deportiert worden waren, betonte: „Man hat ihnen die Würde genommen. Mit dem Aufstellen der Gedenktafel erhalten sie sie zurück – wenn auch sehr spät.“

Gestaltung

Die Gedenktafel wurde vom Kunstschmied Kurt Lange (Jahrgang 1957) angefertigt. Nach dem Abitur absolvierte er bei einem Kunstschmied eine Lehre zum Schlosser. 1984 legte er erfolgreich seine Prüfung als Schmiedemeister ab. Kurt Lange erhielt eine Stipendienausbildung am Europäischen Zentrum für Denkmalschutz in Venedig und eröffnete 1985 seine eigene Werkstatt in Kiel. Seit 2009 lebt und arbeitet er in Bredeneek bei Preetz in Schleswig-Holstein. Er schuf u.a. das Eingangstor des Neuen Botanischen Gartens der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (2015) und das Treppengeländer im Preetzer Krankenhaus (beide gemeinsam mit seiner Frau Isabel Lange) und den Pavillon im Alten Botanischen Garten in Kiel. Für die Restaurierung zweier gusseiserner Veranden an einem historischen Bauernhaus in Ahrensbök wurde er 2013 mit dem Bundespreis für Handwerk in der Denkmalpflege in Schleswig-Holstein ausgezeichnet.

Internetseite von Kurt Lange

Quellenangaben

Archiv Dokumentations- und Kulturzentrum, Heidelberg: Sammlung Gedenkorte

Stadtportal Neumünster:
Niederschrift des Planungs- und Umweltausschusses 27.11.2019; Niederschrift des Schul-, Kultur- und Sportausschusses 28.11.2019; Niederschrift des Finanz- und Rechnungsprüfungsausschusses 04.12.2019; Niederschrift des Hauptausschusses 10.12.2019; Niederschrift der Ratsversammlung, 17.12.2019.

Freies Radio Neumünster: 16.02.2018, 24.10.2019; 19.12.2019.
Möbius, Henning (Runder Tisch für Toleranz und Demokratie): Einladung zur öffentlichen Übergabe der Gedenkstätte für Sinti und Roma, 19.08.2021.
Lipovsek, Christian: Gedenken an die Verschleppten Holsteinischer Courier, 28.04.2021, S. 9.
Wittorf, Susann: Wichtiges Zeichen des Gedenkens, Kieler Nachrichten, 17.05.2021, S. 20.

Schumann, Ingo (Red.): Sinti und Roma aus Neumünster im Nationalsozialismus. Eine Bestandsaufnahme, Neumünster 2021.

Wir danken Ingo Schumann für die zur Verfügung gestellten Informationen und die freundliche Unterstützung.

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