Wiesbaden, Bahnhofstraße

Denkmal für die aus Wiesbaden deportierten und ermordeten Sinti und Roma
  • Gesamtansicht des Hauptelements (Foto: Andreas Pflock)
  • Das Denkmal neben dem Gehweg, im Hintergrund der Hauptbahnhof (Foto: Andreas Pflock)
  • Gesamtansicht (Foto: Andreas Pflock)
  • Aufbau des Denkmals (Foto: Frank Reuter/Archiv DokuZ)
  • Detailansicht des Reliefs (Foto: Andreas Pflock)
  • Letzte Feinarbeiten beim Aufbau des Denkmals (Foto: Frank Reuter/Archiv Dokuz)
  • Detailansicht des Sandsteinblocks mit der Inschrift (Foto: Andreas Pflock)

Kurzinformation

Denkmal für die aus Wiesbaden deportierten und ermordeten Sinti und Roma

Beschreibung

Das Denkmal befindet sich rund 400 Meter nördlich des Wiesbadener Hauptbahnhofs. Der Standort zwischen dem Gehweg und der angrenzenden Grünanlage markiert symbolisch den Weg, den 119 aus Wiesbaden deportierte Sinti und Roma zum bereitstehenden Deportationszug zurücklegen mussten.

Das Denkmal besteht aus insgesamt zwei Elementen: einem aus drei bearbeiteten Sandsteinelementen zusammengefügten ca. 2 Meter hohen, 4 Meter langen und 1,40 Meter breiten Block, der sich in Richtung zum Hauptbahnhof abschrägt, sowie einem etwas seitlich positionierten pultähnlichen Sandsteinblock. Die großen Sandsteinelemente zeigen an allen Seiten das Relief einer Gruppe von Männern, Frauen und Kindern, die ihrem Untergang entgegen gehen. Die sich bis auf eine Höhe von rund 80 Zentimeter abschrägende obere Steinplatte symbolisiert den zunehmenden Druck von Verfolgung und Ausgrenzung, der letztendlich in den Abgrund des nationalsozialistischen Völkermords führte.

Die Inschrift auf dem Sandsteinpult erläutert den historischen Hintergrund und lautet:
„Am 8. März 1943 wurden mehr als hundert Wiesbadener Sinti und Roma verhaftet und an dieser Stelle vorbei zum Bahnhof verbracht. Von dort wurden sie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Nur etwa die Hälfte von ihnen überlebte das Vernichtungslager und kehrte nach 1945 in die Heimatstadt Wiesbaden zurück. Mehrere Hunderttausend europäische Sinti und Roma wurden Opfer des nationalsozialistischen Völkermords.“

Entstehung

Die Initiative zur Erinnerung an die deportierten und ermordeten Wiesbadener Sinti und Roma ging Anfang des Jahres 1991 von Adam Strauß, dem Vorsitzenden des Verbands Deutscher Sinti und Roma – Landesverband Hessen, aus. In einem Schreiben an den Wiesbadener Oberbürgermeister Achim Exner (SPD) vom 4. Februar 1991 forderte er die „Errichtung einer Gedenktafel“ und einen „Empfang für die Überlebenden des Holocaust“, um damit die Leiden der Verfolgten nach Jahrzehnten des Verdrängens öffentlich anzuerkennen und zugleich ein deutliches Zeichen gegen wiedererstarkenden RassismusRassismus Rassismus ist eine Form von Diskriminierung, bei der Menschen nicht als Individuen, sondern als Teil einer einheitlichen Gruppe mit bestimmten (meist negativen) Merkmalen und Charaktereigenschaften angesehen werden. Durch Rassismus wurden und werden Menschen aufgrund der realen oder vorgestellten Zugehörigkeit (beispielsweise zu einer Volksgruppe, Nationalität etc.) oder aufgrund äußerer Merkmale, einer bestimmten Religion oder Kultur vorverurteilt, ausgegrenzt, benachteiligt, unterdrückt, gewaltsam vertrieben, verfolgt und ermordet. zu setzen.

Der Oberbürgermeister lehnte ein eigenständiges Erinnerungszeichen für die verfolgten Sinti und Roma ab mit der Begründung, dass bereits Pläne für die Errichtung eines Denkmals für alle NS-Opfer bestehen. Dort sollte auch das Gedenken an die Ermordung der Wiesbadener Sinti und Roma verortet werden. Der hessische Landesverband der Sinti und Roma wies darauf hin, dass es in Wiesbaden zwar mehrere Erinnerungsorte für die jüdischen NS-Opfer, jedoch kein einziges für die verfolgten Sinti- und Roma gebe und versuchte, die Argumentation mit dem geplanten und allen Opfergruppen gewidmeten Denkmal zu entkräften. Nach einem persönlichen Gespräch mit Adam Strauß sagte Oberbürgermeister Exner ihm schließlich die Anbringung einer Gedenktafel für die deportierten Sinti und Roma zu.

Als möglichen Standort für die Gedenktafel brachte der Landesverband den Schillerplatz in der Stadtmitte ins Gespräch. Dieser erwies sich aufgrund anstehender Bauarbeiten und einer notwendigen Zustimmung durch eine angrenzende Wiesbadener Bank als unrealistisch. Städtische Vertreter schlugen als Alternative vor, die Gedenktafel vor einer Kindertagesstätte in der Bahnhofsstraße anzubringen. Der Landesverband lehnte diese Überlegung jedoch mit der Begründung ab, dass die Aussagekraft der Gedenktafel an dieser Stelle verloren gehen würde. Aus dem Diskurs um einen Standort entwickelt der Landesverband schließlich die Initiative, anstelle einer Gedenktafel ein Denkmal zu schaffen. Zudem erneuerte Adam Strauß die Forderung nach einer städtischen Gedenkstunde zur Erinnerung an die DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet. und einem Empfang für die Überlebenden. Oberbürgermeister Exner kam diesem Anliegen schließlich mit einer Feierstunde und einem Empfang für 60 geladene Gäste im Rathaus am 5. April 1992 nach. Adam Strauß hob in seiner Ansprache die landesweite Bedeutung der Feierstunde hervor, denn Wiesbaden war die erste hessische Kommune, die überlebende Sinti und Roma auf diese Weise öffentlich ehrte und auf das ihnen zugefügte Unrecht aufmerksam machte: „Die Stadt Wiesbaden hat durch diesen Empfang in unseren Augen ihre Würde und Glaubwürdigkeit wiedererlangt.“

Dem Mahnmal hingegen stand der Magistrat der Stadt vor allem wegen der hohen Kosten kritisch gegenüber. Gegen die finanziellen Bedenken protestierte der Landesverband: 119 deportierte Mitbürger*innen „sollten der Stadt doch wohl ein Denkmal wert sein“. Erneut wies der Landesverband in diesem Zusammenhang auf die bestehenden eigenen Denkmale für die jüdischen NS-Opfer hin. An die deportierten Sinti und Roma nur mit dem zentralen Denkmal zu erinnern, könnte zu einer Vermischung von Opfern und Tätern führen, denn es sollte auch den gefallenen Wehrmachtssoldaten und Angehörigen der Polizei gewidmet werden.

Axel Ulrich, der im Wiesbadener Stadtarchiv für die Betreuung des Projekts zuständig war, befürwortete in einem Sachstandsbericht vom Dezember 1991 ein eigenes Sinti-Denkmal. Er begründete seine Position allerdings auch damit, dass der Landesverband mit öffentlichkeitswirksamen Medien vernetzt sei und nur so ein politischer Eklat verhindert werden könne. Der Magistrat schloss sich Ulrichs Empfehlung an, besonders Oberbürgermeister Exner trieb das Vorhaben engagiert voran. Wegen der hohen Realisierungskosten – 132.000 statt 2.500 DM für die Gedenktafel – lag die Entscheidung nun bei der Stadtverordnetenversammlung. Sowohl die SPD als auch die Grünen sprachen sich für die Errichtung des Sinti- und Roma-Denkmals aus. Die Fraktionen von CDU und FDP lehnten das Vorhaben hingegen ab. Die CDU begründete ihre Entscheidung damit, dass es besser wäre, ein zentrales Denkmal zu errichten, da so ein „Auseinanderdividieren in Verfolgte erster und zweiter Klasse“ ausbliebe. Außerdem fühlte man sich in der CDU vom angeblichen Alleingang des Oberbürgermeisters und der Kulturdezernentin Margarethe Goldmann „überrumpelt“. Diese entgegneten, bei der Entscheidung habe es sich nicht um einen „isolierten Akt“ gehandelt, sondern es habe eine Arbeitsgruppe unter CDU-Beteiligung gegeben. Die FDP wiederum positionierte sich gegen das Denkmal, da auch sie eine angeblich entstehende „Klassifizierung im Gedenken“ befürchtete. Aufgrund des Mehrheitsverhältnisses in der Stadtverordnetenversammlung setzten sich die Befürworter des Denkmals durch. Am 21. Mai 1992 wurde die Errichtung des Denkmals beschlossen.

Die Entscheidung über die Gestaltung und Ausführung des Denkmals wurde dem Landesverband überlassen. Dieser entschied sich dafür, das Denkmal von der Sinti-Werkstatt im pfälzischen Albersweiler planen und ausführen zu lassen. Durch diese schnelle Entscheidung entfielen Expertengespräche und ein langwieriger Wettbewerb zur Denkmalsgestaltung.

Mit der Einweihung am 5. Dezember 1992 durch den Vorsitzenden des Landesverbands, Adam Strauß, und Oberbürgermeister Achim Exner stellt das Denkmal in Wiesbaden deutschlandweit das erste große öffentliche Erinnerungszeichen an den VölkermordVölkermord Bezeichnung für die vorsätzliche Ermordung, Ausrottung oder anderweitige Vernichtung von Volksgruppen aufgrund ihrer vermeintlich rassischen, ethnischen oder sozialen Merkmale, ihrer Nationalität oder religiösen Überzeugungen. 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen einen völkerrechtlichen Vertrag über die Verhütung und die Bestrafung von Völkermorden. an Sinti und Roma in Deutschland dar. An der Feier nahmen u.a. Sylvester Lampert und Rosa Wiegand, zwei Überlebende der Wiesbadner Deportation, Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, sowie auch zahlreiche Sinti und Roma aus ganz Hessen teil. Zum Rahmenprogramm gehörte ein öffentlicher Mahngang zum Gedenken an die Deportation, an dem zahlreiche Bürger*innen teilnahmen. In den Räumen der Stadtbibliothek wurde die Ausstellung „Sinti und Roma – Bürger dieses Staates“ eröffnet, die vom Zentralrat konzipiert wurde und die NS-Verfolgung der deutschen Sinti und Roma und deren Ausgrenzung nach 1945 thematisierte. Nach seiner Einweihung entwickelte sich das Denkmal zu einem wichtigen Ort in der städtischen Erinnerungskultur. Seit dem Jahr 2019 findet jährlich eine Feierstunde im Gedenken an die deportierten Sinti und Roma statt, die gemeinsam von der Stadt und dem hessischen Landesverband der Sinti und Roma veranstaltet wird.

Gestaltung

Die Planung und Gestaltung des Denkmals übernahmen Eugen Reinhardt und Josef Reinhardt, zwei Mitglieder der im rheinland-pfälzischen Albersweiler ansässigen Sinti-Werkstatt. Diese war vom Landesverband Deutscher Sinti und Roma Rheinland-Pfalz gegründet worden, um die seit Generationen überlieferte Handwerkskunst der Sinti und Roma zu erhalten und zu fördern. Die Idee dazu entstand im Kontext des Evangelischen Kirchentags 1983 in Hannover, wo Sinti-Handwerker ihre Arbeiten präsentierten. Finanzielle Unterstützung erhielt das Projekt von der Freudenberg-Stiftung wie auch vom Bundes-Bildungsministerium in Bonn. Dank dieser Unterstützung wurden unter Führung des Landesverbands eine Werkstatt und ein Verkaufsraum im pfälzischen Albersweiler angemietet, wo die Handwerker im Laufe der Zeit zahlreiche außergewöhnliche Werke anfertigen konnten.

Die „Sinti-Werkstatt“ erfreute sich nach ihrer Eröffnung im Mai 1987 bis zum Projektende im Herbst 1994 einer breiten Aufmerksamkeit bei vielen prominenten Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Politik. Das Projekt wurde schnell zum Wegweiser für den richtigen Umgang mit Vorurteilen und Diskriminierungen gegenüber der Minderheit. Die Förderung der Kultur, hier im Besonderen der traditionellen Handwerkskunst der Sinti, wie auch die breite öffentliche Anerkennung ihrer Arbeiten unterstützten den Abbau alter Vorurteile. Davon zeugen zahlreiche öffentliche Aufträge, die die Sinti-Werkstatt erhielt. Bekannt wurde die Sinti-Werkstatt im pfälzischen Albersweiler jedoch vor allem auch durch ihre Werke zum Gedenken an die während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Sinti und Roma. Zu den Arbeiten der Sinti-Werkstatt gehören:

  • Brunnentrog der barocken Grundwasser-Brunnenanlage in Landau (1989)
  • Wappen der Evangelischen Kirche der Pfalz in Speyer (1990)
  • Taufstein für die evangelische Kirche in Landau-Nußdorf (1991)
  • Mahnmal für die verfolgten und ermordeten Sinti und Roma in Wiesbaden (1992)
  • Gedenktafel für die deportierten Düsseldorfer Sinti in Düsseldorf (Einweihung 1993)
  • Gedenktafel zur Erinnerung an die verfolgten und ermordeten Heidelberger Sinti (1993)
  • Gedenktafel zur Erinnerung an die Mai-Deportationen 1940 am Bahnhof in Asperg (1995)

Quellenangaben

Archiv Dokumentations- und Kulturzentrum, Heidelberg: Sammlung Gedenkorte

Clausen, Malte/Strauß, Rinaldo: Kampf um Anerkennung. Vier Jahrzehnte Bürgerrechtsarbeit des Hess. Landesverbandes Dt. Sinti und Roma, Darmstadt 2020.
Delfeld, Jacques (Hrsg.): 20 Jahre für Bürgerrechte. Verband deutscher Sinti und Roma Landesverband Rheinland-Pfalz, Mannheim 2005, S.183-193.
Kratz, Philipp: Eine Stadt und die Schuld. Wiesbaden und die NS-Vergangenheit seit 1945, Göttingen 2019, S. 306-312.

„CDU wünscht Mahnmal für alle NS-Verfolgten“, in: FAZ vom 07.04.1992, Nr. 83, S. 49.„Erinnerung an deportierte Sinti. Wiesbaden unterstützt Vorschlag für Gedenktag“, in: FAZ vom 26.02.2020, Nr.48, S. 38.
„Sandstein mahnt zur Erinnerung. Sinti: Skulptur als Symbol für den Holocaust“, in: Die Reinpfalz vom 02.10.1992.

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