Sidonie Adlersburg

"Familienzusammenführung" in Auschwitz
  • Sidonie Adlersburg mit ihre Lieblingspuppe im Alter von etwa drei Jahren (Foto: Nachlass Familie Breirather/Archiv DokuZ)
  • Familie Breirather mit Sidonie Adlersburg (vorne rechts) und Freunden, um 1942 (Foto: Nachlass Familie Breirather/Archiv DokuZ)
  • Sidonie wurde im Zugangsbuch des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau mit der Nummer Z 6672 und dem Nachnamen ihrer leiblichen Mutter (Berger) registriert (Foto: Staatliches Museum Auschwitz)
  • Grabstein der Familie Breirather in Steyr mit symbolischer Inschrift für Sidonie Adlersburg (Foto: Ernst Schimanko)

Kurzinformation

„Familienzusammenführung“ in Auschwitz

Sidonie Adlersburg wurde im Juni 1933 in der Nähe von Altheim in Oberösterreich geboren. Ihre Mutter übergab das Baby – wohl aufgrund finanzieller Not – knapp zwei Monate später, am 18. August 1933, einem Krankenhaus in Steyr. Auf einem Stück Papier, welches das Baby bei sich trug, stand nichts weiter als: „Ich heiße Sidonie Adlersburg und bin geboren auf der Straße nach Altheim. Bitte um Eltern.“ Da sich die leibliche Mutter auch nach einiger Zeit nicht gemeldet hatte, wurde das Kind der Verantwortung des Jugendamts übergeben. Die Fürsorgerin des städtischen Jugendamts beschloss schon bald, die kleine Sidonie zur Pflege an Adoptiveltern abzugeben. Anfang Oktober 1933 befand sich das Baby zunächst bei einer Frau namens Amalia Derflinger in Obhut. Allerdings nur für einige Tage, denn ihr Ehemann wollte das Kind aufgrund der dunklen Hautfarbe nicht in seine Familie aufnehmen.

Familie Breirather

Nach einigen Wochen wurde Sidonie schließlich im Dezember 1933 von Johann und Josefa Breirather adoptiert. Beide waren zu diesem Zeitpunkt seit sieben Jahren verheiratet und hatten bereits einen sechsjährigen Sohn mit Namen Manfred. Der damals 33-jährige Johann Breirather arbeitete als Rundschleifer in den Steyr-Werken, seine Frau führte den Haushalt. Die Familie wohnte westlich von Steyr in Letten, einer Ortschaft in der GemeindeKommune / Gemeinde Bezeichnung für die kleinste öffentliche Verwaltungseinheit in der Organisation eines Staates. Sierning. Auch wenn Josefa Breirather eigenverantwortlich das Mädchen abgeholt und ihren Mann darüber nicht in Kenntnis gesetzt hatte, so kümmert sich dieser bereits nach kurzer Zeit liebevoll wie ein leiblicher Vater um Sidonie. Das Kind brauchte viel Pflege und Aufmerksamkeit, denn es befand sich in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Schon bald bekam der Adoptivvater den RassismusRassismus Rassismus ist eine Form von Diskriminierung, bei der Menschen nicht als Individuen, sondern als Teil einer einheitlichen Gruppe mit bestimmten (meist negativen) Merkmalen und Charaktereigenschaften angesehen werden. Durch Rassismus wurden und werden Menschen aufgrund der realen oder vorgestellten Zugehörigkeit (beispielsweise zu einer Volksgruppe, Nationalität etc.) oder aufgrund äußerer Merkmale, einer bestimmten Religion oder Kultur vorverurteilt, ausgegrenzt, benachteiligt, unterdrückt, gewaltsam vertrieben, verfolgt und ermordet. der Mitmenschen gegenüber dem mit der dunklen Hautfarbe als „fremd“ ausgegrenzten Kleinkind zu spüren. So verweigerten zwei Ärzte entgegen ihrer Pflicht und Verantwortung die Behandlung von Sidonie. Erst mithilfe einer „Kräuterfrau“ gelang es, die Beschwerden zu lindern. Eine komplette Genesung bleibt jedoch unmöglich. Sidonie litt häufig unter Husten, Atemnot und Krämpfen. Als das Mädchen zwei Jahre alt war, brachte ihre Pflegemutter ein Mädchen mit Namen Hilde auf die Welt. Auch wenn die nun fünfköpfige Familie auf engem Raum zusammenleben musste, waren die Lebensumstände gut. Das Jugendbezirksamt Steyr hielt daher fest, dass das Kind "sehr gut betreut" werde.

Einschulung

Durch ihre dunkle Hautfarbe bekam die heranwachsende Sidonie zunehmend die rassistisch geprägte und vorurteilsbehaftete Gesinnung der Bevölkerung zu spüren. Sie wurde schon früh von Kindern aus der Nachbarschaft herabwertend als „Zigeunerin“ oder „schwarzes Ding“ beschimpft. Doch im Gegensatz dazu erlebte sie die Einschulung als große Freude. Ihre erste Lehrerin bewunderte sie sehr. Doch diese Zuneigung wurde nicht erwidert. Stattdessen bezeichnete die Lehrerin die kleine Sidonie als „bösartiges“ Kind. Und dies, obwohl Menschen aus Sidonies Umfeld sie als ein lebhaftes und freundliches Mädchen beschrieben. Im Alter von neun Jahren feierte Sidonie einen aufregenden Moment: ihre Firmung. Und sie freute sich sehr über ihr Geschenk: eine Puppe mit blonden Haaren.

DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet.

Nachdem die Nationalsozialisten ab 1943 mit der Deportation von Sinti und Roma nach Auschwitz begonnen hatten, häuften sich ab dem Frühjahr 1943 die Besuche des Jugendamts bei der Familie Breirather. Auf Veranlassung der Kriminalpolizeistelle in Innsbruck hatte das Kreisjugendamt nämlich bis zum 22. März abzuklären, ob das Mädchen zur leiblichen Mutter gebracht werden sollte oder ausnahmsweise bei ihrer Pflegefamilie verbleiben konnte. Das Kreisjugendamt bat die Schule, den Bürgermeister und den zuständigen Fürsorgeverband um Stellungnahmen und Einschätzungen. Durchweg wurden nur positive Urteile über Sidonie abgeliefert. Doch am Ende dominierte die rassistische Vorstellung und Interpretation, dass das gute Verhalten eines „Zigeunerkindes“ zwangsläufig längerfristig ins Negative umschlagen werde. Die behördlichen Handlungsspielräume, um das Leben des Mädchens zu retten, blieben ungenutzt. Stattdessen wurde Sidonie ihren Pflegeeltern weggenommen.

Mit der Trennung von ihren wichtigsten Bezugspersonen brach ihre kindliche Welt zusammen. Am 30. März übergab das Fürsorgeamt Sidonie an Maria Berger, ihre leibliche Mutter. Die Behörden umschrieben dies wohlklingend als „Familienzusammenführung“. Doch der Zweck dahinter war die gemeinsame Deportation. Am 3. April rollte ein Transport mit insgesamt 76 Sinti und Roma von Innsbruck nach Auschwitz. Dort wurde Sidonie nach der Ankunft am Morgen des 5. April die Häftlingsnummer Z 6672 eintätowiert. Sidonie starb in Auschwitz-Birkenau am 6. August 1943 im Alter von gerade einmal zehn Jahren. Ihr leiblicher Bruder Joschi Adlersburg überlebte den Holocaust und berichtete nach dem Krieg, dass Sidonie nicht nur aufgrund einer ansteckenden Infektionskrankheit gestorben sei, sondern auch „an einem gebrochenen Herzen“, vor Depressionen und Sehnsucht nach ihrer verlorenen Familie.

Rezeption

Die Geschichte von Sidonie Adlersburg wurde vor allem durch die Dokumentarerzählung „Abschied von Sidonie“ des österreichischen Autors Erich Hackl bekannt. Die Erstausgabe erschien 1989 im Diogenes Verlag. Die Erzählung wird seitdem regelmäßig als Lektüre im Schulunterricht eingesetzt. Ursula Baumhauer gab im Jahr 2000 einen Materialien-Band zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Erzählung heraus, der Lehrkräften und Schüler*innen zahlreiche Hintergrundinformationen zum Schicksal von Sidonie Adlersburg liefert. Unter der Regie von Karin Brandauer wurde die Geschichte des Sinti-Mädchens als Gemeinschaftsproduktion des Österreichischen Fernsehen und des Bayerischen Rundfunks im Jahr 1990 verfilmt. Als der Pflegevater im Jahr 1980 starb, ließ die Familie den Grabstein auf dem Urnenfriedhof am Tabor in Steyr um eine weitere symbolische Inschrift erweitern: „Sidonie Adlersburg 1933-1943, gestorben in Auschwitz“.

Quellenangaben

Baumhauser, Ursula: Abschied von Sidonie: Materialien zu einem Buch und seiner Geschichte. Diogenes, Zürich 2000.
Hackl, Erich: Abschied von Sidonie. Diogenes, Zürich 1989, ISBN 3-257-01824-X.
Rauchegger-Fischer, Claudia: Opfer der NS-Diktatur - Versuch einer Eingrenzung, in: Beimrohr, Wilfried/Schober, Richard (Hrsg.), Zeitgeschichtliche Streiflichter. Tirol in der Ersten Republik, unter dem Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Ein Unterrichtsbehelf für Lehrerinnen und Lehrer, Innsbruck 2010, S. 147-186.
Seifert, Oliver: Roma und Sinti im GauGau Bezeichnung für die 33 und später 43 Gebiete, in die die Nationalsozialisten das Deutsche Reich für ihre Parteiarbeit und Parteiorganisation einteilten. Demgegenüber entstanden zur Organisation des nationalsozialistischen Staates insgesamt 12 Reichsgaue als Verwaltungsbezirke. Tirol-Vorarlberg. Die „Zigeunerpolitik“ von 1938 bis 1945, Innsbruck/Wien/Bozen 2005, S. 136ff.

https://steyrerpioniere.wordpress.com/2012/01/10/sidonie-adlersburg/1943gest-sidonie-adlersburg-grabstein am 06.09.2021

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