Else Baker (geb. Schmidt)

„Ich weiß, dass es auch Gutes gibt, nur muss ich mich bewusst daran erinnern.“
  • Verleihung des Bundesverdienstkreuzes in London durch den Botschafter Georg Boomgaarden am 15. Juli 2012 (Abb.: Frank Reuter, Archiv DokuZ)
  • Else Schmidt mit ihren beiden Stiefschwestern, aufgenommen bei einem Fotografen in Hamburg-Osdorf am 3. Mai 1943. Von l.n.r.: Ilse Matulat, Else Schmidt, Gerda Matulat (Foto: Else Baker, Archiv DokuZ)
  • November 2007: Else Baker, Romani Rose und Iris Berben bei einer Lesung aus dem Jugendbuch „Elses Geschichte“ im Berliner Abgeordnetenhaus (Foto: Andreas Pflock, Archiv DokuZ)
  • Else Baker bei ihrer Ansprache anlässlich des 75. Jahrestags der Ermordung von etwa 4.300 Sinti und Roma in Auschwitz am 2. August 2019 (Foto: Jarek Praszkiewicz, Archiv DokuZ)

Kurzinformation

„Ich weiß, dass es auch Gutes gibt, nur muss ich mich bewusst daran erinnern.“

Mit dem Geburtsnamen Schmidt wurde Else Baker am 18. Dezember 1935 im Hamburger Stadtteil Altona geboren. Bereits kurze Zeit später übergab ihre leibliche Mutter – eine Sintiza – das Baby in staatliche Fürsorge. Im Alter von etwa einem Jahr wurde das kleine Mädchen von den Eheleuten Auguste (1883-1969) und Emil Matulat (1889-1971) in Pflege genommen. Else wuchs in dem Glauben auf, das leibliche Kind ihrer Pflegeeltern zu sein. Zusammen mit ihren drei älteren Pflegegeschwistern Gerda, Ilse und Kurt erlebte sie eine unbeschwerte Kindheit. Als NS-Rasseforscher bei pseudowissenschaftlichen „rassenbiologischen Erfassungen“ Elses leibliche Mutter als „Zigeunermischling“ einstuften, ahnte niemand im Haus der Familie Matulat die heraufziehende Gefahr, denn auch Else wurde nun als „Zigeunermischling“ in den Akten der Behörden erfasst.

Etwa 10 Personen, die bei der Hochzeit von Ilse Matulat für ein Gruppenfoto positioniert sind. Vorne in der Mitte sitzt Ilse im Hochzeitskleid. Vorne links steht die fünfjährige Else Schmidt neben ihrem Pflegevater.
Hochzeit von Ilse Matulat 1940. Vorne links Else Schmidt, daneben ihr Pflegevater sowie dahinter stehend ihre Pflegemutter (Foto: Stadtteilarchiv Bramfeld e.V.)
Familie Matulat bei Verwandten in Barth (Vorpommern) im Herbst 1943, von l.n.r.: Else Schmidt, Gerda Matulat mit einer Nichte auf dem Arm, kleiner Junge der Verwandten,
(Foto: Else Baker, DokuZ)

Verhaftungen und DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet.

Im März 1943 erschienen zwei Kriminalpolizisten im Kamillenweg 17 in Hamburg-Osdorf, wo die Familie Matulat in einem kleinen Haus mit Garten lebte. Else wurde, „aus heiterem Himmel“ (wie sie es später beschrieb) verhaftet und in den Fruchtschuppen C am Hamburger Hafen gebracht. Dieser diente als zentraler Sammelort bei den Deportationen von Juden und Sinti und Roma. Ihrem Pflegevater Emil Matulat gelang es jedoch, seine noch nicht einmal 8 Jahre alte Pflegetochter durch sofortigen Protest bei den zuständigen Behörden vor der Deportation zu bewahren. Während am 11. März 1943 insgesamt 328 Hamburger Sinti und Roma vom unweit des Fruchtschuppens gelegenen Hannoverschen Bahnhof nach Auschwitz deportiert wurden, konnte Else wieder zu ihren Pflegeeltern zurückkehren. Die Bedeutung der Ereignisse konnte das kleine Mädchen jedoch nicht verstehen.

„Meine Mutter weinte. Vater war ganz aufgeregt. Mutter zog mich mit zitternden Händen an. Sie packte einen kleinen Koffer für mich. Dadurch, dass das nun das zweite Mal war, nehme ich an, dass sie wussten, dass es dieses Mal schlimm sein würde. Schlimmer als das erste Mal.“

Ein Jahr später schlugen die NS-Behörden erneut zu. Else wurde verhaftet und zum Fruchtschuppen am Hafen gebracht. Völlig ahnungslos und verstört wurde sie zudem damit konfrontiert, nicht das leibliche Kind der Matulats zu sein. Am 18. April 1944 wurde Else nach Auschwitz deportiert. Es war ein kleiner Transport mit insgesamt 26 Personen, darunter 21 Kinder im Alter von 1 bis 15 Jahren.

Liste der am 18. April 1944 von Hamburg nach Auschwitz deportierten Sinti und Roma (Foto: Staatsarchiv Hamburg, 314-15, Oberfinanzpräsident, 47 UA 5)
Liste der am 18. April 1944 von Hamburg nach Auschwitz deportierten Sinti und Roma (Foto: Staatsarchiv Hamburg, 314-15, Oberfinanzpräs., 47 UA 5)

„Das war eine sehr lange Reise. Und ich hatte Heimweh. Das ist etwas, woran ich mich genau erinnere. Ich weiß noch, dass ich durch die Lücke von diesen schweren Schiebetüren in dem Viehwaggon geguckt habe. Die waren etwas größer, so ungefähr 10 cm, um Luft herein zu lassen, denn die Wagen hatten ja keine Fenster. Ich kann mich erinnern, dass ich den dunklen Himmel sah, den Nachthimmel mit Sternen. Ich wusste schon als achtjähriges Kind, dass die Sterne von jeder Ecke in der ganzen Welt gesehen werden können, dass man von überall die gleichen Sterne sehen kann. Das musste mein Vater mir erzählt haben. Und ich weiß noch, dass ich gedacht habe, dass meine Mutter, mein Vater und meine Schwestern die gleichen Sterne sehen können wie ich.“

Auschwitz

Vermutlich traf der Transport am 20. April 1944 in Auschwitz-Birkenau ein. Dort angekommen mussten die Deportierten ihre Kleidung und Habseligkeiten abgeben. Einen Tag später wurden ihre Namen im Häftlingsregister eingetragen. Anschließend tätowierte man ihnen eine Häftlingsnummer auf den linken Unterarm. Aus der achtjährigen Hamburger Schülerin Else wurde nun der Häftling „Z 10.540“. Zusammen mit tausenden anderen Sinti und Roma wurde Else im Lagerabschnitt B IIe, dem „Zigeunerlager“, in primitiven Holzbaracken eingepfercht.

(Foto: Archiv Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau)
Seiten aus den „Hauptbüchern“ des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau. Mit der Nummer Z (für „Zigeuner“) 10.540 wurde Else registriert. Als Beruf wurde „Schülerin“ vermerkt. (Foto: Archiv Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau)
(Foto: Archiv Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau)

Im Lager traf Else, die in Auschwitz völlig auf sich alleine gestellt war, eine Gefangene mit dem Vornamen Wanda. Vermutlich handelte es sich hierbei um die Sintiza Wanda Pranden (geb. Fischer), die von Hannover aus nach Auschwitz deportiert worden war. Auf Befehl der SSSchutzstaffel Die Schutzstaffel (kurz: SS) war 1925 als persönliche Leibwache Hitlers gegründet worden. Den höchsten Dienstgrad innerhalb der SS stellte seit 1934 der „Reichsführer SS“ dar. Bis 1945 nahm Heinrich Himmler diese Position ein. Unter seiner Leitung wurde die SS zu einer Eliteeinheit aufgebaut, die zum zentralen Instrument des staatlichen Terrors wurde. Die SS hatte im Rahmen der „Endlösung“ maßgeblichen Anteil am Völkermord an den europäischen Juden sowie den Sinti und Roma. hatte Wanda eine Tätigkeit als „FunktionshäftlingFunktionshäftling Funktionshäftlinge (auch als „Kapos“ bezeichnet) setzte die SS in allen Konzentrationslagern ein. Ihnen wurde befohlen, viele unmittelbare Abläufe des Lageralltags im Auftrag der SS anzuleiten und zu kontrollieren. Einerseits sparte die SS-Verwaltung auf diese Weise eigenes Personal und Kosten dafür ein, andererseits wurde bewusst eine Lagerhierarchie geschaffen, um die Entstehung einer breiten Solidarität unter den Gefangenen zu verhindern. Funktionshäftlinge erhielten einige Zugeständnisse, z.B. einen abgetrennten Schlafbereich, besseres Essen und leichtere Arbeit. Manche Funktionshäftlinge setzten sich für ihre Mitgefangenen ein und versuchten, sie vor den Übergriffen der SS zu schützen. Andere wiederum handelten ebenso brutal wie das SS-Personal und waren von den Gefangenen gefürchtet und verhasst.“ übernommen. Diese bevorzugte Stellung war mit kleinen Vorteilen verbunden, wie u.a. einem abgetrennten Schlafbereich und besserem Essen. Ohne Wanda hätte Else die Zeit in Auschwitz vermutlich nicht überlebt. Wanda ließ das Mädchen bei sich schlafen, beschaffte ihr besseres Essen und schützte sie vor Übergriffen der SS. Dennoch konnte Wanda nicht verhindern, dass Else unvorstellbar grausame Dinge sehen und miterleben musste. Auch wenn sie damals die Ereignisse um sich herum nicht begreifen konnte, so brannten sich viele Bilder und Wahrnehmungen tief in ihrer Erinnerung ein.

„Viele schreckliche Dinge, die ich erlebt habe, habe ich erst viel später in meinem Leben wirklich begriffen. Als achtjähriges Kind hatte ich anfangs noch überhaupt keine Idee, was Schlechtigkeit ist. So waren viele Menschen sehr krank und sehr abgemagert; einige bekamen Anfälle, viele hingen tot am elektrischen Zaun. Erst hinterher, als Erwachsene, habe ich tatsächlich begriffen, dass dies die Hölle auf Erden war.“

Ravensbrück

Bis Anfang August 1944 verschleppte die SS etwa 3.000 Sinti und Roma aus dem „Zigeunerlager“ in andere KonzentrationslagerKonzentrationslager Konzentrationslager (kurz: KZ oder KL) waren das wichtigste Instrument der NS-Terrorherrschaft. Erste Lager entstanden schon im März 1933, kurz nach der Machtübernahme der NSDAP, anfangs noch in u.a. leeren Fabrikgebäuden, ehemaligen Gefängnissen und Kellergewölben. Bis Kriegsbeginn wurden sieben Konzentrationslager errichtet, bis Ende des Krieges waren es 22 Hauptlager mit weit über 1.000 Außenlagern und Außenkommandos. Alle, die von den Nationalsozialisten zu weltanschaulichen, religiösen und „rassischen“ Gegnerinnen und Gegnern erklärt worden waren, sollten dort inhaftiert werden. Darunter befanden sich vor allem Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Kommunisten, Sozialisten und andere politische Gegner. Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Haftbedingungen weiter und die Ermordung der Gefangenen wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Arbeitskraft der Häftlinge sollte bis zur völligen Erschöpfung oder bis zum Tod für die Kriegswirtschaft ausgenutzt werden. Die SS bezeichnete dies als "Vernichtung durch Arbeit"., wie z.B. Buchenwald und Ravensbrück. Dort wurden sie als Arbeitssklavinnen und Arbeitssklaven der SS an die deutsche Rüstungsindustrie vermietet. Für viele Häftlinge bedeutete die ZwangsarbeitZwangsarbeit Bezeichnung für die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft ohne oder mit nur sehr geringer Bezahlung. Das nationalsozialistische Deutschland schuf mit insgesamt über 12 Millionen Zwangsarbeiter*innen eines der größten Zwangsarbeitssysteme der Geschichte. Neben Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen wurden Millionen von Zivilisten aus besetzten Staaten Europas größtenteils verschleppt und von der deutschen Industrie als Zwangsarbeiter*innen missbraucht. bis zur völligen Entkräftung letztendlich den Tod. Für andere bot sie hingegen eine Chance, der Hölle von Auschwitz zu entkommen und zu überleben. Else Schmidt wurde vermutlich zwischen dem 31. Juli und 2. August 1944 (das genaue Datum ist bisher nicht belegbar) mit einem Transport in das KZKonzentrationslager Konzentrationslager (kurz: KZ oder KL) waren das wichtigste Instrument der NS-Terrorherrschaft. Erste Lager entstanden schon im März 1933, kurz nach der Machtübernahme der NSDAP, anfangs noch in u.a. leeren Fabrikgebäuden, ehemaligen Gefängnissen und Kellergewölben. Bis Kriegsbeginn wurden sieben Konzentrationslager errichtet, bis Ende des Krieges waren es 22 Hauptlager mit weit über 1.000 Außenlagern und Außenkommandos. Alle, die von den Nationalsozialisten zu weltanschaulichen, religiösen und „rassischen“ Gegnerinnen und Gegnern erklärt worden waren, sollten dort inhaftiert werden. Darunter befanden sich vor allem Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Kommunisten, Sozialisten und andere politische Gegner. Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Haftbedingungen weiter und die Ermordung der Gefangenen wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Arbeitskraft der Häftlinge sollte bis zur völligen Erschöpfung oder bis zum Tod für die Kriegswirtschaft ausgenutzt werden. Die SS bezeichnete dies als "Vernichtung durch Arbeit". Ravensbrück (bei Fürstenberg an der Havel) gebracht. Nichtsahnend entging sie dadurch der Ermordung aller noch im „Zigeunerlager“ inhaftierten Sinti und Roma am 2. August 1944.

„Von diesem Zeitpunkt an war alles sehr sehr schlimm. Über vieles, was in Ravensbrück geschehen ist, kann ich bis heute nicht sprechen. Schon in der Frühe mussten wir Appell stehen. Es war inzwischen sehr kalt geworden, ich hatte keine Schuhe, nur ein Sommerkleid und einen Schlüpfer, der schon ganz durchlöchert war. Oft wurde ich von den uniformierten SS-Frauen geschlagen; ich hatte Angst vor allem. […] ich habe immer Angst gehabt, was immer ich sage, das ist nicht richtig. Ich wollte am liebsten unsichtbar sein.“

In Ravensbrück wurde Else am 3. August offiziell mit der Nummer 48.114 registriert. Die Nummer wurde jedoch nur auf der Häftlingskleidung angebracht und nicht – wie zuvor in Auschwitz – noch zusätzlich auf den Unterarm tätowiert. Im Konzentrationslager Ravensbrück gab es niemanden mehr, der das Mädchen vor Misshandlungen durch die SS schützte. Die Lebensbedingungen und die Ernährung waren zudem schlechter als in Auschwitz, da das Lager Ravensbrück zu dieser Zeit aufgrund zahlreicher ankommender Transporte bereits völlig überfüllt war.

Entlassung in die Freiheit

Else konnte nicht wissen, dass ihr Pflegevater Emil Matulat in der Zwischenzeit alles Erdenkliche unternahm, um sie wieder nach Hause zurückholen zu können. Er hatte sich entschieden, um seine Pflegetochter zu kämpfen. Vergeblich bat er zunächst den NSDAP-Ortsvorsteher um Hilfe. Schließlich wandte er sich mit handschriftlichen Briefen an höchste Staats- und Parteistellen: an Hermann Göring, Heinrich Himmler und Adolf Hitler. Ende September 1944 gelang es Emil Matulat schließlich, die Entlassung seiner Tochter zu erreichen. Am 11. November 1944 schickte ihm die Berliner Partei-Kanzlei der NSDAP ein Schreiben, in dem die Freilassung nochmals bestätigt wurde. Die genauen Gründe, die letztendlich zu Elses Entlassung aus dem Konzentrationslager geführt haben, lassen sich nicht mehr rekonstruieren – vor allem, weil der Briefwechsel zwischen Emil Matulat und den Behörden nicht erhalten geblieben ist. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass dabei auch viel Glück im Spiel gewesen sein muss.

Er kämpfte um das Leben seiner Pflegetochter: Emil Matulat, 1930er Jahre (Foto: Else Baker, Archiv DokuZ)
Mitteilung der Partei-Kanzlei der NSDAP vom 11. Nov. 1944 (Foto: Archiv DokuZ)
Mitteilung der Partei-Kanzlei der NSDAP vom 11. Nov. 1944 (Foto: Archiv DokuZ)

Am 27. September 1944 erhielt Else in Ravensbrück plötzlich den Befehl, unter Bewachung in die Lagerkommandantur zu gehen. Es sollte ihr Weg in die Freiheit werden. In der Kommandantur wartete bereits ihr Pflegevater, der gekommen war, um „seine“ Else nach Hause zu holen. Zuvor musste sie jedoch noch eine Erklärung unterschreiben, mit der sie sich zum Schweigen über alle Erlebnisse in den Konzentrationslagern verpflichtete.

2019: Blick auf das ehemalige Kommandanturgebäude. Rechts daneben befand sich das Tor zum Gefangenenlager (Foto: Andreas Pflock)
Blick auf das ehemalige Kommandanturgebäude. Rechts daneben befand sich das Tor zum Gefangenenlager (Foto: Andreas Pflock)
Entlassungsschein aus dem KZ Ravensbrück (Foto: Else Baker, Archiv DokuZ)
Entlassungsschein aus dem KZ Ravensbrück vom 27. September 1944, links oben steht im Aktenzeichen ihre Häftlingsnummer (Foto: Else Baker, Archiv DokuZ)
Zeichnung von Lukas Ruegenberg (Foto: Lukas Ruegenberg, Archiv DokuZ)
Emil Matulat holt seine Pflegetochter aus der Kommandantur des KZ Ravensbrück. Zeichnung von Lukas Ruegenberg (Foto: Lukas Ruegenberg, Archiv DokuZ)

„Auf jeden Fall wurde ich dann ins Büro geführt. Die Aufseherin sagte, dass ich mich hinsetzen solle. Und dann habe ich da auf dem Stuhl gesessen, und nach einer Weile ging die Tür auf und mein Pflegevater kam herein. Ich war aber zu verstört, um mich zu freuen. […] Zu guter Letzt musste ich sogar noch an den Schreibtisch und es wurde mir gesagt: ‚Was du hier gesehen hast, darüber darfst du mit niemanden sprechen. Verstehst du das?‘ Ich musste das sogar unterschreiben, dass ich niemanden etwas erzähle, von dem was ich erlebt hatte. Und mit meiner kleinen Kinderhandschrift machte ich eine Unterschrift. Es war die erste Unterschrift meines Lebens.“

Weiterleben und späte Erinnerung

Else Schmidt, Hamburg 1946
(Foto: Else Baker, DokuZ)

Zurück in Hamburg sprach Else nur ein einziges Mal mit ihrem Vater über die Erlebnisse in den Konzentrationslagern. Emil Matulat war zutiefst erschüttert. Beide entschieden, darüber zu schweigen, um Else bzw. die Familie nicht in Gefahr zu bringen. Nach sechsmonatiger Abwesenheit kehrte Else im Oktober 1944 in die Schule zurück. Ihre Tätowierung auf dem linken Unterarm wurde mit einem Pflaster abgedeckt. Über das Erlebte sprach sie viele Jahrzehnte nicht mehr. Doch die schrecklichen Erinnerungen ließen sich nicht auf Dauer verdrängen.

Nach dem Schulabschluss erlernte Else den Traumberuf vieler Mädchen und Frauen in der damaligen Zeit. Im Oktober 1951 begann sie eine Ausbildung zur Friseurin im Salon von Erna Tieste im Hamburger Stadtteil Groß Flottbek. Im Alter von 20 Jahren heiratete Else. Die unglückliche Ehe zerbrach, nachdem ein Lastkraftwagen Else und ihren zwei Jahre alten Sohn im März 1959 angefahren hatte. Else wurde mit einer Gehirnerschütterung und Prellungen im Krankenhaus aufgenommen. Ihr Sohn starb an den Folgen des Unfalls.

„Ich bin so müde vom Leben. Ich habe zu viel kämpfen müssen, immer kämpfen, kämpfen für alles – fürs Recht am Leben zu sein an erster Stelle.“

Schließlich wanderte Else Schmidt im Jahr 1963 nach England aus, wo sie 1965 heiratete und den Nachnamen Baker annahm. Bis heute lebt sie in der Nähe von London. 1966 ließ sie die Tätowierung ihre Häftlingsnummer entfernen. Sicherlich hoffte Else Baker, weg von Deutschland und gemeinsam mit ihrem Mann, nun eine Zukunft „ohne Auschwitz“ erleben zu können. Doch bereits kurze Zeit später litt sie zunehmend an stärker werdenden Depressionen.

„Bis das alles so in meinem Kopf aufging, da war ich schon 39 Jahre alt. Das war hier in England. Wie das passiert ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall war es sehr schlimm, als sich mit einem Mal alles in meinem Kopf kristallisiert hatte und alles rauskam, was ich durchgemacht hatte. Ich hatte damals einen Nervenzusammenbruch.“

Nach vielen Jahrzehnten des Schweigens berichtete Else Baker 1994 in einem Interview mit dem Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma erstmals über ihre Erfahrungen in den Konzentrationslagern. Zumindest das Schweigen und Verdrängen hatten damit für sie ein Ende. Als erste Sintiza wurde sie 2005 von Königin Elizabeth II. zu einer Audienz für Überlebende der NS-Konzentrationslager eingeladen.
In Deutschland wurde ihre Geschichte durch das Kinder- und Jugendbuch „Elses Geschichte“ von Michail Krausnick bekannt. Es schien im Jahr 2007, wurde inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt und diente als Vorlage für Theaterinszenierungen. Seitdem hat das Schicksal von Else Baker die Herzen vieler Menschen berührt.

Aufführung des Theaterstücks „Elses Geschichte. Ein Mädchen überlebt Auschwitz“ durch jugendliche Laienschauspieler*innen des Werkraumtheaters Walldorf im Heidelberger Dokumentationszentrum am 18.10.2009 (Foto: Frank Reuter, DokuZ)
Cover der deutschen Buchausgabe „Elses Geschichte“
(Foto: S. Fischer Verlage)

Für ihr Engagement, den Holocaust an Sinti und Roma während der NS-Zeit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wurde Else Baker am 15. Juli 2012 in der deutschen Botschaft in London mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Trotz einer Erblindung, die ihren Lebensalltag stark beeinträchtigt, reiste sie am 27. Januar 2020 noch einmal nach Auschwitz. Bei der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers erinnerte sie dort in ihrer Ansprache an die Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma in der NS-Zeit.

Else Baker bei ihrer Ansprache zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am
27. Januar 2020 (Wojciech Grabowski, Archiv Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau)

„Noch heute fällt es mir ausgesprochen schwer, an den Ort des Vernichtungslagers Auschwitz zurückzukehren. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wohin Antiziganismus, Antisemitismus und RassismusRassismus Rassismus ist eine Form von Diskriminierung, bei der Menschen nicht als Individuen, sondern als Teil einer einheitlichen Gruppe mit bestimmten (meist negativen) Merkmalen und Charaktereigenschaften angesehen werden. Durch Rassismus wurden und werden Menschen aufgrund der realen oder vorgestellten Zugehörigkeit (beispielsweise zu einer Volksgruppe, Nationalität etc.) oder aufgrund äußerer Merkmale, einer bestimmten Religion oder Kultur vorverurteilt, ausgegrenzt, benachteiligt, unterdrückt, gewaltsam vertrieben, verfolgt und ermordet. führen. […] Die Schicksale der Ermordeten und der Überlebenden der Vernichtungslager dürfen nie in Vergessenheit geraten. Hoffentlich bleiben das Museum und die Gedenkstätte Auschwitz auch in Zukunft erhalten. Sie sind eine Warnung, dass Rassismus und verrückte Ideologien nicht wieder an Macht gewinnen dürfen. In Zeiten wie diesen, in denen Antiziganismus und Antisemitismus wieder an Boden gewinnen, müssen wir alle für Demokratie und MenschenrechteMenschenrechte Menschenrechte gelten für alle Menschen, gleichgültig in welchem Land oder Staat der Erde sie leben. Die Idee, genau festzulegen, welche Rechte dies sind, gibt es schon seit langer Zeit. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Vereinten Nationen (UNO) daran, diese Rechte schriftlich zu verfassen und den einzelnen Ländern zur Unterzeichnung vorzulegen. Am 10. Dezember 1948 wurde von der UNO die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Die Menschenrechte gelten also für alle Menschen, unabhängig von nationaler oder sozialer Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Vermögen, politischer, religiöser oder sonstiger Einstellung. Zahlreiche wichtige Punkte sind in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in 30 Artikeln festgelegt, vom Verbot von Diskriminierung, Folter oder Sklaverei über die Versammlungsfreiheit, das Recht auf Bildung, Eigentum oder Arbeit bis zum Asylrecht oder zur Gewissens-, Glaubens- und Meinungsfreiheit. Die meisten Staaten haben die Menschenrechtserklärung unterzeichnet. Dennoch gibt es in vielen Ländern (auch in solchen, die unterzeichnet haben) Menschenrechtsverletzungen. Viele Einrichtungen in den verschiedenen Ländern beobachten die jeweilige Menschenrechtssituation und der Europarat veröffentlicht jährlich einen Bericht, in dem er die Situationen in den einzelnen Ländern beschreibt. eintreten.“

Quellenangaben

Archiv Dokumentations- und Kulturzentrum, Heidelberg: Sammlung Lebenswege

Hoppe, Ulrike (Hrsg.): „... und nicht zuletzt ihre stille Courage.“ Hilfe für Verfolgte in Hamburg 1933-1945, Hamburg 2010.
Krausnick, Michail: Elses Geschichte, Düsseldorf 2007.
Pflock, Andreas Pflock / Diehm, Melanie:
Elses Geschichte. Hintergrundinformationen, Heidelberg 2018.

Interview des Dokumentations- und Kulturzentrums mit Else Baker am 25. April 1994.
Interview von Karin Guth mit Else Baker im November 2002.

Wir danken Karin Guth (Hamburg) und dem Stadtteilarchiv Bramfeld e.V. für die freundliche Unterstützung.

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