Ranco Brantner

„Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht raushalten darf.“
  • Ranco Brantner wenige Tage nach dem Hungerstreik in Dachau bei einem Interview mit der Schwäbischen Zeitung in seiner Wohnung, April 1980 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
  • Ranco Brantner vermutlich in einem Urlaub, undatiert (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
  • Ranco Brantner auf dem Katholikentag in Düsseldorf, September 1982 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)

Kurzinformation

„Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht raushalten darf.“

„Die Lebensgeschichte des Ulmer Sinto Ranco Brantner steht stellvertretend für das Schicksal unserer Minderheit im Nationalsozialismus und die fortgesetzte Diskriminierung, der Sinti und Roma auch nach 1945 in der Bundesrepublik ausgesetzt waren. Gleichzeitig ist sie ein Manifest der Selbstermächtigung und ein Zeugnis für die lebensverändernde Kraft des Glaubens: Durch sein Engagement in der katholischen Kirche und seine Mitarbeit in der Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma fand Ranco Brantner in der zweiten Lebenshälfte einen Weg, seinem durch das Trauma der NS-Verfolgung zerrissenen Leben einen selbstbestimmten Lebensentwurf entgegenzusetzen.“ (Romani Rose anlässlich der Einweihung einer Gedenktafel für Ranco Brantner an der Ulmer Wengenkirche am 4. April 2023)

Familie

Hedwig Brantner, undatiert (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner
Hedwig Brantner, undatiert
(Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Ranco Brantner mit Fahrrad, vermutlich Anfang der 1940er Jahre (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Ranco Brantner mit Fahrrad, vermutlich Anfang der 1940er Jahre (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)

Hans Ranco Brantner wurde am 7. April 1931 in Chemnitz geboren. Er war der zweitälteste Sohn der Sinti Eduard und Hedwig Brantner (geb. Seger). Beide stammten aus bekannten österreichischen Musikerfamilien. Ab 1927 lebten sie in Sachsen. Die Mitglieder der Familie Brantner waren österreichische Staatsbürger und galten zunächst laut Meldekartei als „arisch“. Dadurch blieb die Familie bis 1939 vor der nationalsozialistischen Verfolgung zunächst geschützt. Von 1933 bis 1939 war der Vater sogar Mitglied in der NSDAP. Doch das Leben der Familie sollte sich bald schlagartig durch die NS-Verfolgungsmaßnahmen ändern. Der Vater wurde aufgrund der rassistischen IdeologieIdeologie Ideologie stammt vom griechischen Wort „ideologia“ und bedeutet auf Deutsch „Ideenlehre“. Mit Ideologie bezeichnet man bestimmte politische Ideen (z.B. Sozialismus, Marxismus, Kommunismus, Konservatismus oder Liberalismus). Ideologien sind nicht richtig oder falsch, sondern spiegeln bestimmte Wertvorstellungen wider. Wer eine Ideologie vertritt, zeigt, dass sie oder er mit den Vorstellungen, mit den Werten dieser Idee einverstanden ist und diese auch in der Politik umsetzen möchte. Gefährlich werden Ideologien dann, wenn nur mehr eine einzige erlaubt ist und alle Menschen, die andere Ideologien vertreten oder sich für diese einsetzen, daran gehindert oder verfolgt werden. Dies war zum Beispiel in Diktaturen wie dem Nationalsozialismus der Fall. der Nationalsozialisten als „Zigeuner“ eingestuft und aus der Partei ausgeschlossen. Noch konnte er nicht ahnen, welches Unrecht die Nationalsozialisten seiner Familie und den Sinti und Roma zufügen sollten: Ausgrenzung, Entrechtung bis hin zum VölkermordVölkermord Bezeichnung für die vorsätzliche Ermordung, Ausrottung oder anderweitige Vernichtung von Volksgruppen aufgrund ihrer vermeintlich rassischen, ethnischen oder sozialen Merkmale, ihrer Nationalität oder religiösen Überzeugungen. 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen einen völkerrechtlichen Vertrag über die Verhütung und die Bestrafung von Völkermorden..

Verfolgung in der NS-Zeit

Ranco Brantner im Alter von 9 Jahren. Aufnahme der NS-Rassenforscher (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)

Ende 1933 zog die Familie nach Leipzig, wo Ranco Brantner ab 1938 die Schule besuchte. 1942 wurde er aus „rassischen Gründen“ vom Unterricht ausgeschlossen und ihm damit jede Möglichkeit einer schulischen Bildung verwehrt. Die nächste rassistische Ausgrenzung, die die Familie Brantner ertragen musste, bildete der „FestsetzungserlassFestschreibungserlass Der Festschreibungserlass war eine Anordnung von Heinrich Himmler (dem Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei) vom 17. Oktober 1939. Darin wurde den Sinti und Roma verboten, ihren Wohn- und Aufenthaltsort ohne vorherige Genehmigung zu verlassen. Selbst für Besuche bei auswärtigen Verwandten mussten vorher Passierscheine beantragt werden, um sich nicht strafbar zu machen. Bei Zuwiderhandlungen drohten Verhaftung und Einweisung in ein Konzentrationslager.“: Ab Herbst 1939 durfte die Familie das Stadtgebiet von Leipzig nicht mehr verlassen. Zudem mussten sich die Brantners in regelmäßigen Abständen bei der Kriminalpolizei melden. Bei einer Nichteinhaltung dieser Vorgaben drohte ihnen die unmittelbare Verschleppung in ein KonzentrationslagerKonzentrationslager Konzentrationslager (kurz: KZ oder KL) waren das wichtigste Instrument der NS-Terrorherrschaft. Erste Lager entstanden schon im März 1933, kurz nach der Machtübernahme der NSDAP, anfangs noch in u.a. leeren Fabrikgebäuden, ehemaligen Gefängnissen und Kellergewölben. Bis Kriegsbeginn wurden sieben Konzentrationslager errichtet, bis Ende des Krieges waren es 22 Hauptlager mit weit über 1.000 Außenlagern und Außenkommandos. Alle, die von den Nationalsozialisten zu weltanschaulichen, religiösen und „rassischen“ Gegnerinnen und Gegnern erklärt worden waren, sollten dort inhaftiert werden. Darunter befanden sich vor allem Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Kommunisten, Sozialisten und andere politische Gegner. Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Haftbedingungen weiter und die Ermordung der Gefangenen wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Arbeitskraft der Häftlinge sollte bis zur völligen Erschöpfung oder bis zum Tod für die Kriegswirtschaft ausgenutzt werden. Die SS bezeichnete dies als "Vernichtung durch Arbeit".. 1939 zwang man die Familie dazu in eine Kellerwohnung zu ziehen, die sie sich mit einer jüdischen Familie teilen mussten.

Am 6. Juni 1940 wurde die gesamte Familie zu einer „rassenbiologischen Untersuchung“ in das Polizeipräsidium vorgeladen. Ranco Brantner war damals gerade neun Jahre alt. Die Rassenforscher stuften schließlich Rancos Vater als „Zigeuner“ ein, die Mutter als „Zigeunermischling“ und Ranco selbst als „Zigeunermischling mit vorwiegend zigeunerischem Blutanteil“.

Vorerst konnten die Familienmitglieder in ihre Wohnung zurückkehren. Ihr Alltagsleben wurde jedoch von den Nationalsozialisten zunehmend erschwert. 1940 wurde dem Vater ein Auftrittsverbot auferlegt und er musste ZwangsarbeitZwangsarbeit Bezeichnung für die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft ohne oder mit nur sehr geringer Bezahlung. Das nationalsozialistische Deutschland schuf mit insgesamt über 12 Millionen Zwangsarbeiter*innen eines der größten Zwangsarbeitssysteme der Geschichte. Neben Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen wurden Millionen von Zivilisten aus besetzten Staaten Europas größtenteils verschleppt und von der deutschen Industrie als Zwangsarbeiter*innen missbraucht. in einer Transformatorenfabrik in Leipzig verrichten. Ranco Brantners Mutter konnte durch Heimarbeit ein Zubrot verdienen. 1943 erklärten die Nationalsozialisten die Brantners zu Staatenlosen. Ende des Jahres wurde die Familie ausgebombt und zog nach Mittweida, eine Kleinstadt in der Nähe von Chemnitz, wo sie bis Februar 1947 lebte.

Zwangssterilisierung

Am 9. Mai 1944 wurde Ranco Brantner zusammen mit seinem Vater und einem Bruder abgeholt und in das Ausweichkrankenhaus Hochweitzschen eingeliefert. Der 11. Mai 1944 wurde dort zu einem der schwärzesten und schmerzlichsten Tage in seinem Leben: Der damals dreizehnjährige Junge wurde zwangssterilisiert. Zuvor war seinem Vater von den NS-Behörden mit der DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet. seiner ganzen Familie in ein Konzentrationslager gedroht worden, sollten er und seine Söhne sich nicht einem solchen Eingriff unterziehen. Unter dem Druck dieser Erpressung und in der großen Angst stimmte der Vater schließlich der ZwangssterilisationZwangssterilisation Bezeichnung für einen erzwungenen medizinischen Eingriff, bei dem ein Mensch ohne Einwilligung unfruchtbar, also unfähig zur Fortpflanzung, gemacht wird. Von Zwangssterilisationen waren in der NS-Zeit ca. 400.000 Menschen betroffen, darunter auch viele Angehörige der Sinti und Roma. Die Grundlage dafür bildete das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1934. für sich und seine drei minderjährigen Söhne zu.

Ranco Brantner beschrieb, dass der Eingriff ohne Narkose stattfand und von zwei Studenten unter Aufsicht eines Arztes vorgenommen wurde. Nach der Operation musste sich der Junge mit drei weiteren Personen ein Bett teilen. Und als wäre der Eingriff nicht traumatisch genug gewesen, musste Ranco Brantner eine Misshandlung durch eine Krankenschwester über sich ergehen lassen. Einen Tag nach der Operation sollte er aufstehen und das Bett ordentlich herrichten, was er aufgrund starker Schmerzen nicht schaffte. Daraufhin trat die Krankenschwester mit ihren Stiefeln auf ihn ein. Seine Wunde platzte auf und musste erneut genäht werden. Diese Demütigung hinterließ ein zusätzliches schweres Trauma, das Ranco Brantner sein Leben lang begleiten sollte. Gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder wurde er am 17. Mai 1944 nach Hause entlassen. Auch der jüngere Bruder Rudolf konnte der Zwangssterilisation nicht entgehen. Der Eingriff an dem erst zwölf Jahre alten Jungen fand am 13. März 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, im Krankenhaus Rochlitz statt.

„Für die Sinti-Familien gehören gesunde und viele Kinder zum besonderen Stolz. Ich habe immer nur erlebt, dass Sinti zu ihren Kindern ausgesprochen liebevolle Beziehungen hatten. Wenn sterilisierte Sinti überhaupt eine Chance hatten, zu heiraten, gingen die Ehen meist schon nach kurzer Zeit in die Brüche.“
(SDR Radiobeitrag „Das Porträt: Sinto Ranco Brantner“, 18.11.1993)

Welche Last der Vater mit seiner Entscheidung für die Sterilisierung tragen musste wird daran deutlich, dass seine Söhne ihm später vorwarfen, keine eigenen Familien gründen zu können. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Entscheidung des Vaters den Familienangehörigen das Leben rettete, während 22 Verwandte in verschiedenen Konzentrationslagern ermordet wurden. Warum die Familie überhaupt vor die Wahl zwischen Zwangssterilisierung und Deportation gestellt wurde bleibt unklar.

Noch kurz vor dem Kriegsende musste Ranco Brantner im Januar und Februar 1945 täglich zehn Stunden Zwangsarbeit leisten. Erst der Einmarsch der Roten Armee im Frühjahr 1945 brachte der Familie die Befreiung von der menschenverachtenden Herrschaft der Nationalsozialisten.

Weiterleben

Nach dem Krieg besuchte Ranco Brantner ein Musikinternat im Erzgebirge. Doch auch diese Zeit war für ihn von Diskriminierungen geprägt: häufig wurde er als „Zigeuner“ beschimpft und gehänselt. Erfahrungen von Antiziganismus und RassismusRassismus Rassismus ist eine Form von Diskriminierung, bei der Menschen nicht als Individuen, sondern als Teil einer einheitlichen Gruppe mit bestimmten (meist negativen) Merkmalen und Charaktereigenschaften angesehen werden. Durch Rassismus wurden und werden Menschen aufgrund der realen oder vorgestellten Zugehörigkeit (beispielsweise zu einer Volksgruppe, Nationalität etc.) oder aufgrund äußerer Merkmale, einer bestimmten Religion oder Kultur vorverurteilt, ausgegrenzt, benachteiligt, unterdrückt, gewaltsam vertrieben, verfolgt und ermordet. beeinflussten seinen Alltag und das Leben der Familie: Bei der Suche nach einer passenden Wohnung wurden sie als Mieter abgelehnt und die Suche nach einem Arbeitsplatz war ebenso von Ausgrenzung und Diskriminierung geprägt.

Im Jahr 1947 zog die Familie Brantner zurück nach Leipzig. Während es dem Vater gelang, direkt nach dem Kriegsende eine Musikband mit 15 Musikern zu gründen, sollte das Leben des heranwachsenden und erwachsenen Ranco Brantner im Schatten seiner traumatischen Erlebnisse stehen. Er und seine Brüder verdienten ihren Lebensunterhalt als Musiker in Bars und Clubs. 1947 bestand er die Aufnahmeprüfung bei der Staatlichen Hochschule für Musik – Mendelssohn-Akademie in Leipzig und begann ein Musik-Studium. Mehrmals wechselte er den Studienort. Ranco Brantner studierte unter anderem in Duisburg (wohin die Familie 1950 umzog), an der Kirchenmusikschule in Bayreuth und am Bruckner-Konservatorium in Linz. Letztendlich beendete er sein Musikstudium jedoch ohne Abschluss.

Rückschläge

Auch in seinem Privatleben musste Ranco Brantner als junger Mann viele Rückschläge erleben. In den 1950er Jahren scheiterten zwei Versuche Ehen einzugehen an der ihm zugefügten Sterilisierung. Man kann nur grob erahnen, wie schmerzhaft diese Erfahrungen für einen jungen Mann gewesen sein müssen, der den Wunsch hatte, seine eigene Familie zu gründen. Verletzt und verzweifelt unternahm Ranco Brantner 1956 einen ersten Selbstmordversuch. Er lebte damals im österreichischen Linz, wohin er nach eigener Aussage „aus Hass auf Deutschland“ gezogen war.

Entwerteter österreichischer Reisepass von Ranco Brantner (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)

Seine Versuche, Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht zu erlangen, blieben aussichtslos. Im Jahr 1950 wurde Ranco Brantners Antrag auf Wiedergutmachung abgelehnt, weil ihm der Kreissonderhilfsausschuss aufgrund von Haftstrafen in den Jahren 1946 bis 1952 die „erforderliche Würdigkeit“ für eine Wiedergutmachung absprach. In den 1950er-Jahren stellte er noch weitere Anträge, doch auch diese wurden abgelehnt. Dieses Mal mit der Begründung, dass die erzwungene Sterilisierung „keinen bleibenden Schaden“ darstelle.

1957 verbrachte er etwa einen Monat in der Landeskrankenanstalt Klagenfurt. Kurze Zeit später kam er wegen kleinerer Delikte wie Diebstahl und Hochstapelei ins Gefängnis und verbüßte eine Haftstrafe in Graz. Dort durchlebte er eine – für sein weiteres Leben wichtige – erste innere Wandlung. Ranco spielte Orgel bei Veranstaltungen im Gefängnis, half beim Aufbau eines Chores, verfasste ein kurzes Hörspiel („Nächtlicher Kampf“) und wurde auch dazu inspiriert, straffällig gewordenen Menschen zu helfen. Ranco Brantner fand endlich zumindest ein kleines Stück von dem Halt im Leben, den er sich vermutlich immerzu gewünscht und nach dem er bisher vergeblich gesucht hatte. Depressionen ließen ihn jedoch nicht zur Ruhe kommen. Im Jahr 1965 beging er einen zweiten Suizidversuch.

Zuwendung zum Glauben

Die entscheidende Wende in seinem Leben vollzog sich erst, nachdem er sich intensiv dem christlichen Glauben zuwandte und darin Kraft und Halt fand. Am 2. Dezember 1966 ließ er sich im Alter von 35 Jahren noch einmal ganz bewusst taufen. Besonders prägend war für ihn die Teilnahme an einem Kurs der katholischen Erneuerungsbewegung CursilloCursillo Cursillo (der „kleine“ Glaubenskurs) ist eine Bewegung innerhalb der katholischen Kirche und entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Insel Mallorca aus der Schulung von Wallfahrtsführern nach Santiago de Compostela. Die Kurse werden von einem Team aus Laien und Priestern geleitet und sollen Impulse zur persönlichen Vertiefung und aktivem Einsatz in Kirche und Gesellschaft geben. im Jahr 1970. Vor allem ein Laienvortrag über Frömmigkeit berührte ihn dabei tief.

„Da waren es eigentlich nicht so sehr diese Fachgespräche der Priester, sondern es waren eigentlich mehr die Gespräche, die Vorträge werden da Gespräche genannt, der Laienvortragenden, die mich da so ziemlich ergriffen hatten. Und grade der Vortrag über Frömmigkeit. Der hatte mich da ordentlich gepackt. Und nach diesem Kurs kam ich dann also auch zum Nachdenken. Und da hab´ ich gesagt: Ja Herrgott im Himmel, das ist ja gar nicht dieser Gott, der da dran schuld ist, dem ich immer die Schuld gegeben habe, es sind die Menschen. Nämlich die Menschen, die wirklich nicht auf Gottes Wort hören.“
(SDR Radiobeitrag „Das Porträt: Sinto Ranco Brantner“, 18.11.1993)

Hochzeitsfoto von Maria und Ranco Brantner, 5. Mai 1973 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Ranco Brantner vermutlich in einem Urlaub, undatiert (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)

In der Cursillo-Bewegung fand Ranco Brantner viele Freunde und lernte bei einem Treffen 1971 in Ulm auch seine spätere Frau Maria, geb. Dorner, kennen. Noch im selben Jahr zog er zurück nach Deutschland und lebte in Offingen bei Günzburg. Doch trotz dieser positiven Wendungen ließen Ranco die traumatischen Erfahrungen aus der NS-Zeit nicht los. Zudem plagte ihn die große Angst, dass auch Maria ihn nicht heiraten würde. Die Verzweiflung darüber, trieb Ranco Brantner im August 1971 in einen dritten Selbstmordversuch. Nach einer Therapie traute er sich lange Zeit nicht, um Marias Hand anzuhalten. Sie blieb jedoch an seiner Seite. Beide heirateten am 5. Mai 1973 und teilten ihren tiefen Glauben, der sie miteinander verband.

Bürgerrechtliches Engagement

Anerkennungsurkunde anlässlich seines 10-jährigen Dienstjubiläums bei der Ulmer Südwest Presse (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Anerkennungsurkunde anlässlich seines 10-jährigen Dienstjubiläums bei der Ulmer Südwest Presse (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)


Im Leben von Ranco Brantner begann eine bessere Zeit. 1972 zog er nach Ulm und arbeitete als Stadtbote bei der Südwest Presse, wo er sich zudem als Betriebsratsmitglied engagierte. Dort blieb er ein geschätzter Mitarbeiter, bis er 1994 erwerbsunfähig geschrieben wurde. Nebenberuflich gab er Gitarren- und Cellounterricht. Zudem begann er, sich auch für die Interessen und Belange der Sinti und Roma zu engagieren.

Der Glaube gab Ranco Brantner auch die Kraft sich zu seiner Zugehörigkeit zur Minderheit zu bekennen, nachdem er sich auf Grund der anhaltenden Diskriminierung von Sinti und Roma in der Gesellschaft über Jahrzehnte in die Anonymität zurückgezogen hatte. Doch auf seine Offenheit folgte erneute Diskriminierung. Viele Bekannte zogen sich von ihm zurück, nachdem sie wussten, dass er zur Gruppe der Sinti gehörte. An seine Haustür wurde „Hier wohnt der Zigeuner“ geschmiert.

„Vor ein paar Jahren habe ich im Fernsehen eine Sendung gesehen, in der die Sinti wieder mal so dargestellt wurden, wie sie nicht sind. Ich habe mich beim Südwestfunk beschwert. Daraufhin bekam ich die Adresse des Verbandes Deutscher Sinti. Ich wurde von ihnen eingeladen. Man erzählte mir über die Diskriminierungen der Sinti in der Bundesrepublik. Ich das das nicht so ganz geglaubt und wollte mich selbst davon überzeugen.

Daraufhin habe ich Urlaub genommen und bin durch die ganze Bundesrepublik gefahren. Ich stellte fest, dass das Leben der Sinti teilweise viel schlimmer war, als ich es erzählt bekommen hatte. Ich habe dabei gemerkt, dass ich mich nicht raushalten darf. Ganz einfach deswegen, weil ich im Dritten Reich selbst gelitten habe. Da ich auch in der Kirche tätig bin, habe ich mir überlegt, wenn ich für andere tätig sein kann, warum sollte ich nicht für mein Volk etwas tun. Gerade für mein Volk.“
(Boström 1981, S. 154)

Von 1979 bis 1988 engagierte sich Ranco Brantner zunächst in der Bürgerrechtsbewegung und später im Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Dort war er für den Kontakt zu den Kirchen, die Sozialarbeit im Ulmer Umfeld sowie für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Das Engagement in der Bürgerrechtsbewegung war für Ranco Brantner eine Form der Selbstermächtigung und ein Ventil, um sein zerbrochenes und zerrissenes Leben aufzuarbeiten. Es ermöglichte ihm, die Isolation aufzubrechen und der Scham, die er über die ihm zugefügte Verstümmelung empfand, aktiv etwas entgegenzusetzen.

Ranco Brantner nahm an allen zentralen Aktionen der Bürgerrechtsbewegung und des späteren Zentralrats Deutscher Sinti und Roma teil. Unter anderem an der Kundgebung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen im Oktober 1979 und 1980 am achttägigen Hungerstreik auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau. Beim Hungerstreik sprach Ranco Brantner auch erstmals öffentlich über seine Zwangssterilisierung. Am 1. September 1981 nahm er an Besetzung des Tübinger Uniarchiv teil. Dort lagerten Unterlagen der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ aus der NS-Zeit: unter anderem Familienstammbäume, Vermessungskarteien sowie zehntausende Fotos. Die 18 Sinti-Aktivisten erzwangen deren Herausgabe und Überführung in das Bundesarchiv nach Koblenz. Ranco Brantner erlebte dabei eine bewegende persönliche Überraschung: Er fand Akten und Fotos von sich und seiner Familien, obwohl von Behörden immer behauptet worden war, dass diese nicht mehr existierten.

Kirchliches Engagement und weiterer Lebensweg

Programm des Informations- und Kulturtags mit Sinti in Dachau unter Beteiligung von Ranco Brantner, 1980 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Programm des Informations- und Kulturtags mit Sinti in Dachau unter Beteiligung von Ranco Brantner, 1980 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Rede- und Musikbeitrag von Ranco Brantner auf dem Katholikentag in Düsseldorf (Auszug), September 1982 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Rede- und Musikbeitrag von Ranco Brantner auf dem Katholikentag in Düsseldorf (Auszug), September 1982 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)

Ranco Brantner setzte sein Engagement in der Kirche fort. Häufig begleitete er Gottesdienste mit seiner Gitarre und seinem Gesang. Sein Verhältnis zur Institution Kirche blieb jedoch gespalten. Ein herber Rückschlag war für ihn auch die deutliche Ablehnung seiner Bewerbung für die Diakonen-Stelle in der „Zigeuner- und Nomadenseelsorge“ in Köln. Er wollte einer der Nachfolger von Silvia SobeckSilvia Sobeck Silvia Sobeck war schwer belastet durch ihre Freundschaft zum „Rassenhygieniker“ Hermann Arnold, der in Landau einen Teil der NS-„Zigeuner“-Akten der Rassenhygienischen Forschungsstelle verwahrte, zu denen sie einen exklusiven Zugang hatte. Die Seelsorgerin behauptet unter anderem öffentlich, dass Sinti und Roma „primitiv und ungebildet“ seien und „nicht logisch, rational und spekulativ schlussfolgern“ oder „fortschrittlich denken“ könnten. Die Bürgerrechtsbewegung forderte vor dem Hintergrund solcher diffamierenden Äußerungen Sobecks unverzügliche Absetzung und die Besetzung des Amtes mit einem Sinto. werden, die von 1973 bis 1989 die Sozialreferentin der Katholischen Zigeuner- und Nomadenseelsorge des Kölner Katholischen Caritasverbands war. Infolge der Ablehnung seiner Bewerbung trat Ranco Brantner vorübergehend aus der katholischen Kirche aus, versöhnte sich aber später wieder mit ihr.

„Die einzigen Repressalien, die ich durch meine Teilnahme am Hungerstreik in Dachau zu spüren bekam, kamen von der katholischen Kirche. Meinem Beruf hat das überhaupt nicht geschadet, ich wurde sogar noch mehr geachtet. Das Verhältnis zu meinen Arbeitskollegen und zu meinen Vorgesetzten hat sich dadurch verbessert. Aber in der Kirche war das anders- ich habe als überzeugter Katholik jahrelang Vorträge über religiöse Themen gehalten.

Nach Dachau schwieg die Kirche. Man lud mich nicht mehr ein, nachdem ich mich öffentlich als Sinto bekannt habe. Ganz typisch dafür ist folgendes Beispiel: Einmal wurde ich aufgefordert, bei einem Gottesdienst zu singen, zu spielen und auch die Predigt zu übernehmen. Ich habe das gemacht. Danach wurde der betreffende Priester angerufen, und man sagte ihm: ‚Jetzt dürfen wohl Zigeuner auch noch in der Kirche mitmachen!‘ Dieser Pfarrer hat geschwiegen und er hat mich nicht verteidigt. Er, der mich als seinen Freund bezeichnet.“
(Boström 1981, S. 155)

Mitwirkung von Ranco Brantner beim Versöhnungsgottesdienst in der katholischen Kirche St. Jakob in Dachau, 13. Juli 1980 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Mitwirkung von Ranco Brantner beim Versöhnungsgottesdienst in der
katholischen Kirche St. Jakob in Dachau, 13. Juli 1980 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Ranco Brantner mit seiner Gitarre, vermutlich 1983 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Ranco Brantner mit seiner Gitarre, vermutlich 1983 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)

Die verweigerte Wiedergutmachung beschäftigte Ranco ein Leben lang. Äußerst demütigend war es für ihn, eine ärztliche Bestätigung für seine Unfruchtbarkeit zu erhalten. Letztendlich sprach man ihm eine einmalige Zahlung über 5.000 DM (1985) sowie eine monatliche zusätzliche Rente von 100 DM (ab 1988) zu.

„Mein Leben nach dem Krieg war schlimmer als das, was mir in der Nazizeit angetan wurde. Die Folgen der Zwangssterilisation, die Ablehnung der Wiedergutmachung, das angebliche Verschwinden meiner Akten […] hat nicht nur meine Lebensqualität, sondern auch meinen Lebensinhalt zerstört. Der Rest ist ein zerbrochener, schwerkranker alter Mann.“
(Wuttke 2012, S. 320)

Gegen Ende seines Lebens, als er gesundheitlich vor allem durch schweres Asthma stark angeschlagen war, machte er sich große Sorgen um die finanzielle Lage seiner Frau nach seinem Tod. Am Ende seines Lebens überwog scheinbar die Resignation über den Verlauf seines Lebens die aus seinem Glauben geschöpfte Kraft. Im Februar 1995 trat er in seiner Wohnung noch einmal in einen Hungerstreik. Anfang Mai 1995 wurde er, mit einem Gewicht von nur noch 44 kg, völlig entkräftet ins Krankenhaus eingeliefert. Am 5. Mai 1996 verstarb Ranco Brantner im Alter von nur 65 Jahren. Am 8. Mai wurde er auf dem Ulmer Friedhof beigesetzt.

Sterbeanzeigen für Ranco Brantner in der Südwest Presse, 7. Mai 1996 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Sterbeanzeigen für Ranco Brantner in der Südwest Presse,
7. Mai 1996 (Foto: DZOK Ulm, NL Brantner)
Teile des Nachlasses von Ranco Brantner im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm (Foto: Andreas Pflock)
Teile des Nachlasses von Ranco Brantner im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm (Foto: Andreas Pflock)

Durch Vermittlung von Dr. Walter Wuttke übergab Brantners Ehefrau Maria den Nachlass ihres Ehemanns im Januar 2014 an das Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg in Ulm. Am 6. Dezember 2021 verstarb Maria Brantner im Alter von 77 Jahren. Seit dem 4. April 2023 erinnert an der Ulmer Wengenkirche, in der er Kirchenmitglied war, eine Gedenktafel an Ranco Brantner und sein Engagement in der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma: die Würdigung eines engagierten Lebens im Schatten der Verfolgung.

Quellenangaben

Dokumentations- und Kulturzentrum, Heidelberg: Sammlung Lebenswege
Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, R 1/004 D931045/111: Das Porträt: Sinto Ranco Brantner, Hörfunksendungen des SDR vom 18. November 1993.

Boström, Jörg u.a. (Hrsg.): Das Buch der Sinti, Berlin 1981, S. 154f.
Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm (Hrsg.): Mitteilungen, Heft 76/2022, S. 25 sowie Heft 60/2014, S. 12.
Gesellschaft für bedrohte Völker (Hrsg.): pogromPogrom Bezeichnung für einen gewalttätigen Übergriff auf eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe. Der Begriff bedeutet "Verwüstung" oder "Zerstörung".. Zeitschrift für bedrohte Völker, Sonderausgabe zum III. Roma-Weltkongress, Ausgabe 80/81, Göttingen 1981, S. 147ff.
Krausnick, Michail: Die Zigeuner sind da, Würzburg 1981, S. 214ff.
Wuttke, Walter: Das Leben des Sinto Ranco Brantner. Ein Beitrag zur Erforschung der Zwangssterilisation, in: Arbeitskreis zur Erforschung der NS-„EuthanasieAktion T4 "Aktion T4" ist eine Nachkriegs-Bezeichnung für den systematischen Mord der Nationalsozialisten an behinderten Menschen in Deutschland und Österreich. „T4“ war die Abkürzung für die Adresse, von der aus die Morde organisiert wurden (die „Tiergartenstraße 4“ in Berlin). Mehr als 70.000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen wurden in den Jahren 1940/41 in den sechs Tötungsanstalten Grafeneck, Bernburg, Hadamar, Hartheim, Pirna-Sonnenstein und Brandenburg in Gaskammern ermordet. Die Opfer stammten aus allen Schichten der Gesellschaft. Vor allem Menschen, die aus der Sicht von Ärzten keine brauchbare Arbeit leisteten konnten, viel Pflege benötigten oder störten, waren von der Ermordung bedroht. Die Nationalsozialisten nutzten zur Verschleierung des Massenmords Begriffe wie „Euthanasie“ (griechisch = guter/leichter/schöner Tod) oder „Aktion Gnadentod“. Nach Protesten aus der Bevölkerung und der Kirche wurden die Tötungen zunächst offiziell eingestellt, heimlich aber noch bis zum Kriegsende weiter geführt. Unabhängig davon wurden auch in den besetzten oder annektierten Gebieten Polens und der Sowjetunion zehntausende kranke und behinderte Menschen ermordet. Schätzungen gehen von insgesamt zwischen 200.000 und 300.000 Opfern der NS-Krankenmorde aus.“ und Zwangssterilisation (Hrsg.): Tödliches Mitleid. NS-„Euthanasie“ und Gegenwart, Münster 2007, S. 85-108.
Ders.: Das Leiden und die Lebenspläne des Sinto Ranco Brantner, Blaubeurer Geographische Hefte 42, Nürtingen 2010.

Wir danken dem Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg (Ulm) und dessen Team für die freundliche Unterstützung sowie die Erlaubnis zur Verwendung der Abbildungen aus dem Nachlass von Ranco Brantner.

Dr. Walter Wuttke danken wir dafür, dass er sich mit großem persönlichen Engagement für die Dokumentation der Lebensgeschichte von Ranco Brantner eingesetzt hat. Ohne seine Recherchen und Veröffentlichungen wäre diese Darstellung nicht möglich gewesen.

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