Jovi Richter

„Ich bin auf der Strecke geblieben. Meinen Kindern habe ich die Möglichkeit gegeben, dass sie was lernen.“
  • Jovi Richter im Alter von 14 Jahren, Aufnahme aus seinem Reisepass (Foto: Privatbesitz Familie Richter/Archiv DokuZ)

Kurzinformation

„Ich bin auf der Strecke geblieben. Meinen Kindern habe ich die Möglichkeit gegeben, dass sie was lernen.“

Jovi Richter trägt zwei Heimaten in seinem Herzen: Rumänien und Deutschland. Geboren wurde er am 16. April 1943 in Kischinew (damals Rumänien, heute Moldawien) unter wirren Bedingungen: Seine Familie – Vater, Mutter und drei Geschwister – waren 1940 aus Deutschland geflohen, um der zunehmenden Verfolgung der Sinti durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Wegen einer Erkrankung musste Jovi als Neugeborener in einem Krankenhaus aufgenommen und dort behandelt werden. Für eine Weiterreise war er zu schwach, sodass seine Eltern Wilhelm Friedrich Richter und Hedwig Richter (geb. Steinbach) ihn in der rumänischen Stadt Arad schweren Herzens zurücklassen mussten. Mit ihren anderen drei Kindern Fritz, Walter und Frieda reisten sie weiter, während Jovi im Krankenhaus zurückbleiben musste. Nach seiner Genesung wurde er in einem Kinderheim in Arad untergebracht, wo er etwa zweieinhalb Jahre verbrachte.

Schließlich nahm ihn das kinderlose rumänische Ehepaar Floare und Gheorghe Milas aus dem Dorf Socodor als Pflegekind bei sich auf. Seine leiblichen Eltern wurden in den Papieren im Kinderheim als verschollen angegeben. In der Schmiede seines Pflegevaters lernte Jovi den Umgang mit Hufeisen und Blase-Balg „von der Pike auf“. Wenn er dort nicht aushalf, traf er sich mit Schulkameraden, ging im Winter Schlittschuhfahren und bastelte Radios. „Wir waren zwar arm, aber ich habe mich da wohlgefühlt,“ erinnert er sich an die Kindheit in Rumänien. Auch die Arbeit in der Schmiede bereitete ihm meist Freude.

Jovi Richter besuchte in Rumänien auch drei Jahre lang die Schule, bis er zu seinen leiblichen Eltern nach Deutschland geschickt wurde. Im Alter von zehn Jahren verletzte sich Jovi Richter im Schulunterricht und musste ins Krankenhaus nach Arad gebracht werden. Zufällig traf er dort auf jene Krankenschwester, die ihn schon als Baby behandelt hatte. Sie erinnerte sich an seinen Namen und berichtete, dass seine leiblichen Eltern nach ihm suchen würden. Jovi und seine Pflegeeltern nahmen Kontakt zu ihnen auf. Mitte der 1950er-Jahre fiel die Entscheidung: Jovi Richter sollte zu den leiblichen Eltern nach Deutschland gehen. Sein Pflegevater sah dort, unter anderem auch aufgrund seiner eigenen kritischen Einstellung zum Kommunismus, bessere Chancen für die Zukunft des Jungen als in Rumänien.

Reisepass, den Jovi Richter für die Ausreise aus Rumänien benötigte (Foto: Privatbesitz Familie Richter/Archiv DokuZ)
Reisepass, den Jovi Richter für die Ausreise aus Rumänien benötigte (Foto: Privatbesitz Familie Richter/Archiv DokuZ)

Anfang 1958 trat Jovi Richter im Alter von 14 Jahren ganz allein die erste große Reise seines Lebens an: über Bukarest nach Budapest und weiter nach Wien. Da er sich dort nicht mehr verständigen konnte (Jovi sprach nur Rumänisch und Ungarisch, Deutsch hatte er nie gelernt), wurde er in das ungarische Konsulat gebracht.

Sein weiterer Weg führte ihn in das Durchgangslager Piding in Bayern. Nach einem kurzen Aufenthalt dort gelangte Jovi Richter im Februar 1958 zu seinen Eltern nach Hannover. Die erste Zeit in Deutschland erwies sich jedoch schwieriger als erwartet: Das Zusammenleben mit den Eltern und Geschwistern war aufgrund der sprachlichen Barriere kompliziert. Außerdem fand Jovi zunächst keinerlei Beziehung zu seiner Familie, da ihm seine Eltern und Geschwister fremd waren. Zunehmend plagte den Jungen auch das Heimweh nach Rumänien, seinen Pflegeeltern und der vertrauten Umgebung. Auf die Frage danach, was er neben seinen Pflegeltern am meisten vermisst habe, antwortete Jovi Richter in einem Interview im Jahr 2015: „Erstmal das ganze Essen. Das hat mir hier nicht zugesagt, überhaupt nicht. Das Essen in Rumänien war alles selbstgemacht.“

Schulisch gab es für ihn keine Möglichkeit, die fehlende Bildung nachzuholen, um mit Gleichaltrigen mithalten zu können. Jovi besuchte in Deutschland keine Schule mehr. Das Lesen und Schreiben der deutschen Sprache brachte er sich nach und nach selbst bei. Jovi Richter wäre gerne Elektriker geworden, doch auch für den Besuch einer Berufsschule fehlten ihm die notwendigen Sprachkenntnisse und Zeugnisse. Somit musste er diesen Traum aufgeben. Stattdessen begann er eine Arbeit in einer Schlosserei. Seine Gesundheit war jedoch aufgrund der schlechten Bedingungen in seinen ersten Lebensjahren immer noch schwer angeschlagen. Jovi entschied sich deshalb schließlich dazu, als Kaufmann tätig zu werden.

Ankunft von Jovi Richter in Deutschland im Februar 1958 (Foto: Bundesverwaltungsamt, Außenstelle Friedland)
Ankunft von Jovi Richter in Deutschland im Februar 1958 (Foto: Bundesverwaltungsamt, Außenstelle Friedland)

Dass seine Familie Sinti waren, erfuhr Jovi Richter erst in Deutschland. Für ihn war es schwer, die Identität als Sinto anzunehmen, denn in seinem Kopf waren viele der verbreiteten Vorurteile und Stereotype gegenüber Sinti und Roma vorhanden. Er verschwieg daher zunächst seine Zugehörigkeit zur Gruppe der Sinti und betonte stattdessen immer wieder, Rumäne zu sein. Vereinzelt reiste er nach Rumänien. Nur einmal noch sah er seine Pflegeeltern wieder, bevor sie verstarben. Jovi Richter erbte ihr Haus und übertrug es den Nachbarn, die sich dafür um das Grab der Pflegeeltern kümmerten. Auch heute noch schwärmt er von Rumänien als „Aurelia – Goldland“ und wünscht sich, nach seinem Tod dort seine letzte Ruhestätte zu finden.

Immer wieder stellte Jovi Richter Entschädigungsanträge bei den Behörden, immer wieder flatterten ihm Ablehnungsbescheide in den Briefkasten. Erst 2013 sprach man ihm eine finanzielle „Wiedergutmachung“ zu. Damit erlangte Jovi Richter endlich die Anerkennung für das ihm zugefügte Unrecht. Jovi Richter heiratete zweimal und wurde insgesamt fünfmal stolzer Vater.

Die schulische Bildung seiner Kinder und Enkelkinder liegt ihm mit dem Blick auf das eigene Leben besonders am Herzen. Sie sollen beruflich und gesellschaftlich die Chancen und Möglichkeiten haben, die ihm verwehrt geblieben sind. Als großen Schaden, der ihm durch die NS-Zeit zugefügt wurde, empfindet Jovi Richter auch seine Schwierigkeit, seine liebevollen Gefühle zu anderen Menschen nach außen zeigen zu können. Für die Zukunft wünscht er sich, dass gerade junge Menschen Vorurteile abbauen und somit dazu beitragen, die Welt zu einem besseren und friedlicheren Ort zu machen.

Jovi Richter mit Familienangehörigen und Gästen bei der Eröffnung des biografischen Koffers zu seiner Lebensgeschichte im Dokumentationszentrum, September 2022 (Foto: Andreas Pflock /Archiv DokuZ)
Jovi Richter mit Familienangehörigen und Gästen bei der Eröffnung des biografischen Koffers zu seiner Lebensgeschichte im Dokumentationszentrum, September 2022 (Foto: Andreas Pflock /Archiv DokuZ)

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