Geschichte des Lagers
Das polnische Dorf Bełźec (WoiwodschaftWoiwodschaft Die Republik Polen ist seit dem Jahr 1999 in sechzehn Woiwodschaften (Verwaltungsbezirke) aufgeteilt. Diese bilden die oberste Stufe der territorialen Gliederung des Landes – ähnlich wie die Bundesländer in Deutschland. Lublin) befindet sich etwas über 100 Kilometer südöstlich von Lublin sowie rund 15 Kilometer von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt. In der Mitte der 1930er Jahre zählte der Ort knapp 2.000 Einwohner, darunter 76 Juden. Nach dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 und der anschließenden Besetzung des Landes gewann der im äußersten Osten Polens gelegene Ort an strategischer Bedeutung für die Nationalsozialisten, denn er lag fortan im deutsch besetzten „GeneralgouvernementGeneralgouvernement Generalgouvernement war die Bezeichnung für das ab Oktober 1939 militärisch besetzte Gebiet Polens, das nicht dem Deutschen Reich einverleibt wurde. Es unterstand dem Generalgouverneur Hans Frank und bestand ab 1941 aus fünf Distrikten (Krakau, Lublin, Radom, Warschau uns Galizien) mit über 17 Millionen Einwohnern.“ und nur etwa 600 Meter von der Grenze zur damaligen SowjetunionUnion der Sozialistischen Sowjetrepubliken Zwischen 1922 und 1991 war die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (kurz: UdSSR) ein zentralistisch regierter Einparteienstaat, der sich über Osteuropa bis nach Zentral- und über gesamt Nordasien erstreckte. Das Kerngebiet bestand aus der Russischen Sowjetrepublik. Seit der Auflösung der UdSSR 1991 werden die völkerrechtlichen Rechte und Pflichten von der Russischen Föderation wahrgenommen. entfernt.
Bereits in den ersten Monaten der Besatzungsherrschaft begannen die deutschen Instanzen vor Ort mit der Verfolgung der jüdischen und der Roma-Bevölkerung, die seit vielen Generationen in der Region beheimatet waren. Der auch für Bełźec zuständige „Gouverneur“ des „Generalgouvernements“ Hans Frank ordnete am 26. Oktober 1939 die Zwangsarbeitsverpflichtung für Polen und Arbeitsbeschränkungen für die jüdische Bevölkerung an. Dies bildete die Rechtsgrundlage für die Einrichtung zahlreicher Zwangsarbeitslager. Etwa 35 von ihnen entstanden in der Region Lublin, um u.a. an der Grenzlinie zur Sowjetunion militärische Befestigungsanlagen (Wälle und Gräben) bauen zu lassen. Sie bildeten den größten Komplex von Zwangsarbeitslagern im Generalgouvernement im Jahr 1940. Die Zwangsarbeiter wurden darüber auch beim Straßenbau, bei der Regulierung von Flüssen und beim Ausheben von Entwässerungsgräben eingesetzt.
Ab Mai 1940 entstand in Bełżec ein Lager, um von dort aus Zwangsarbeitskräfte auf umliegende Einsatzorte zu verteilen. Die dort festgehaltenen Männer, Frauen und Kinder mussten zur Sicherung der Grenze zur Sowjetunion schwere ZwangsarbeitZwangsarbeit Bezeichnung für die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft ohne oder mit nur sehr geringer Bezahlung. Das nationalsozialistische Deutschland schuf mit insgesamt über 12 Millionen Zwangsarbeiter*innen eines der größten Zwangsarbeitssysteme der Geschichte. Neben Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen wurden Millionen von Zivilisten aus besetzten Staaten Europas größtenteils verschleppt und von der deutschen Industrie als Zwangsarbeiter*innen missbraucht. beim Bau eines 50 Kilometer langen Panzergrabens zwischen Bełźec und Dzików Stary leisten. Für ihre Unterbringung wurden mehrere Orte genutzt: das Gelände eines Gutshofs etwa 1 Kilometer westlich des Dorfzentrums, die sogenannte Kessler Mühle und ein Lokschuppen (der während der Existenz des Vernichtungslagers in Bełżec als Depot für das Eigentum der Ermordeten diente). Das Lager unterstand dem SSSchutzstaffel Die Schutzstaffel (kurz: SS) war 1925 als persönliche Leibwache Hitlers gegründet worden. Den höchsten Dienstgrad innerhalb der SS stellte seit 1934 der „Reichsführer SS“ dar. Bis 1945 nahm Heinrich Himmler diese Position ein. Unter seiner Leitung wurde die SS zu einer Eliteeinheit aufgebaut, die zum zentralen Instrument des staatlichen Terrors wurde. Die SS hatte im Rahmen der „Endlösung“ maßgeblichen Anteil am Völkermord an den europäischen Juden sowie den Sinti und Roma.-Sturmbannführer Hermann Dolp. Nach Einsätzen in den Konzentrationslagern Dachau und Sachsenhausen war er 1939 ins besetzte Polen gelangt und dort für kurze Zeit Leiter der Gestapo in Kalisch (pol.: Kalisz) geworden. Aufgrund der versuchten Vergewaltigung einer jungen Polin unter Alkoholeinfluss wurde er degradiert und nach Lublin strafversetzt, wo er die Leitung verschiedener Zwangsarbeiterlager übernahm.
Unter den ersten in das Lager Bełźec verschleppten Menschen befanden sich rund 1.000 aus Nordwestdeutschland deportierte Sinti und Roma sowie eine unbekannte Anzahl polnischer Roma. Insgesamt wurden von Frühjahr bis Herbst 1940 über 11.000 Männer, Frauen und Kinder, die Mehrheit von ihnen Juden, in das Lager Bełźec und seine Unterlager deportiert. Die Gesamtzahl der Opfer an den verschiedenen Einsatzorten ist unbekannt. Allein in Bełźec starben mindestens 300 Männer, Frauen und Kinder an den Folgen der menschenverachtenden Lebensbedingungen, bei der Zwangsarbeit oder durch Terror und Gewalt.
Mai-DeportationDeportation Bezeichnung für die zwangsweise Um- oder Aussiedlung von Menschen aus ihren Wohngebieten, zum Teil unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Während der NS-Zeit wurden ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Sinti und Roma zunächst aus dem Deutschen Reich, dann auch aus dem übrigen Europa, in Sammellager, Gettos und Konzentrations- oder Vernichtungslager in die besetzten Ostgebiete deportiert und dort ermordet. Oft wurde dies auch zur Tarnung als "Evakuierung" bezeichnet.
Am 27. April 1940 ordnete Heinrich Himmler per Schnellbrief an, dass „der erste Transport von Zigeunern nach dem Generalgouvernement“ Mitte Mai in der Stärke von 2.500 Personen „in Marsch gesetzt“ werden sollte. „Richtlinien“, die dem Schnellbrief beigefügte waren, bestimmten die SelektionSelektion Bezeichnung für die Einteilung von Menschen in Kategorien wie „lebenswert“ oder „lebensunwert“. Beispielsweise fanden bei der Ankunft von Transporten im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Selektionen statt. Die Menschen wurden in „Arbeitsfähige“ und „Nichtarbeitsfähige“ (und damit zum Tod in den Gaskammern) eingeteilt. der Deportierten, ihre Festnahme und ihren Transport zu den Sammelplätzen bzw. Sammellagern, ihre dortige „Behandlung“ sowie schließlich die „Durchführung des Abtransportes“. Zur Bewachung waren „für jeden Transport ein Offizier und 25 uniformierte Beamte abzuordnen“.
Etwa zwei Wochen später, am 16. Mai 1940, verhafteten Kriminalpolizisten im Rheinland sowie im Nordwesten und Südwesten des Deutschen Reichs Sinti- und Roma-Familien und brachten diese in Sammellager in den Kölner Messehallen, im Hamburger Hafen sowie im Gefängnis Hohenasperg bei Ludwigsburg. Von dort fuhren während dieser sogenannten Mai-Deportation Sonderzüge in das Generalgouvernement, wo die Verschleppten in Lager, Ghettos oder in Dörfer gebracht und dort zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Nur wenige von ihnen überlebten das Ende des Nationalsozialismus. Zusammen mit der Deportation von ca. 1.000 Juden aus dem Raum Stettin im Februar 1940 handelt es sich bei der Mai-Deportation um die erste Zwangsverschleppung von deutschem Boden aus in das so genannte „Generalgouvernement“. Sie markiert einen Einschnitt in der Verfolgung der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten, der sich tief in das kollektive Gedächtnis der Minderheit eingegraben hat. Zum ersten Mal wurden dabei auch ganze Familien verschleppt: kleine Kinder ebenso wie alte Menschen.
Sinti und Roma im Zwangsarbeitslager Bełźec
In Norddeutschland hatte die Kriminalpolizei ab dem 16. Mai 1940 in Hamburg, Bremen, Kiel, Flensburg und anderen Städten rund 1.000 Sinti und Roma verhaftet. Mit Lastwagen und Bussen wurden sie im Hamburger Hafen in einem Lagerhaus, dem „Fruchtschuppen C“, zusammengepfercht. Nach ihrer Registrierung mussten die Männer, Frauen und Kinder ihre Papiere und Wertsachen abgeben und wurden am 20. Mai vom nahegelegenen Hannoverschen Bahnhof nach Bełźec verschleppt. Drei Tage dauerte die Fahrt in den überfüllten Güterwaggons.
Der 1928 bei Hamburg geborene Sinto Gottfried Weiss war einer der Deportierten. Er überlebte verschiedene Zwangsarbeits- und KonzentrationslagerKonzentrationslager Konzentrationslager (kurz: KZ oder KL) waren das wichtigste Instrument der NS-Terrorherrschaft. Erste Lager entstanden schon im März 1933, kurz nach der Machtübernahme der NSDAP, anfangs noch in u.a. leeren Fabrikgebäuden, ehemaligen Gefängnissen und Kellergewölben. Bis Kriegsbeginn wurden sieben Konzentrationslager errichtet, bis Ende des Krieges waren es 22 Hauptlager mit weit über 1.000 Außenlagern und Außenkommandos. Alle, die von den Nationalsozialisten zu weltanschaulichen, religiösen und „rassischen“ Gegnerinnen und Gegnern erklärt worden waren, sollten dort inhaftiert werden. Darunter befanden sich vor allem Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Kommunisten, Sozialisten und andere politische Gegner. Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Haftbedingungen weiter und die Ermordung der Gefangenen wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Arbeitskraft der Häftlinge sollte bis zur völligen Erschöpfung oder bis zum Tod für die Kriegswirtschaft ausgenutzt werden. Die SS bezeichnete dies als "Vernichtung durch Arbeit". und berichtete: „Die haben uns aus den Betten gejagt, wir mussten uns sofort anziehen und fertig machen. Und sie haben uns erzählt, dass wir umgesiedelt werden, dass wir schöne Häuser in Polen kriegen. Dann haben sie uns auf Lastwagen geladen und die Älteren haben gleich gedacht, es ist besser, wenn man versucht so gut es geht etwas an Kleidung mitzunehmen. Wir haben die Sachen übereinander gezogen. […]. Da sind wir alle gesammelt worden und zum Freihafen gebracht worden, zum Fruchtschuppen. […] Na ja, schließlich wurden wir dann am 20. Mai in die Waggons verladen. […] Es waren unglaublich viele Leute und so wahnsinnig voll. Heute weiß ich ja, dass es fast tausend waren, über die Hälfte waren Hamburger. Die anderen kamen aus anderen Gegenden in Norddeutschland.
Als wir die Polizeiposten an den Zügen sahen, hörte ich wie die Erwachsenen skeptisch wurden. Sie fragten sich wohl, warum die Polizeibewachung da ist, wenn wir nur umgesiedelt werden sollen und Häuser kriegen sollen. Viele haben das wohl von vornherein nicht geglaubt. Und als auch noch die Waggontüren abgeschlossen wurden, war es den meisten klar, dass hier was nicht stimmte. Jeweils ungefähr 50 waren immer in einem Güterwaggon. Und immer ein oder zwei Polizeiposten dabei. Die Züge waren damals noch nicht so modern wie heute, sondern die mussten nach bestimmten Kilometern Wasser tanken. Da haben dann die Frauen sofort auch nach Wasser für die Kinder geschrien, denn in den Waggons gab es kaum Wasser und das Schlimmste war, dass es keine Toiletten gab.
Ich glaube, wir waren drei Tage und zwei Nächte unterwegs und kamen dann in Bełżec an. Da sind wir dann ausgestiegen. Da kam uns ein Kommandant auf einem Pferd entgegen. Das war ein SS-Hauptsturmführer. Der hat sich dann vor uns aufgestellt, er war ein verhältnismäßig kleiner Mann, der hat sich also vor uns aufgestellt und gesagt: ‚Ab heute seid ihr alle meine Gefangenen. Ich werde einen Strich hier ziehen. Und wer diesen Strich übertritt, wird erschossen!‘ Die Männer mussten dann tagelang daran arbeiten, innen von dem Strich den Zaun zu bauen. Wir mussten also den Stacheldrahtzaun ziehen und uns selbst einzäunen. Das muss man sich mal vorstellen! Wir waren da in so einer großen Baracke, so ungefähr 100 Meter lang. Da war Stroh drin und da mussten wir dann alle auf dem Boden liegen. In den ersten zwei Wochen sind über 70 Kinder gestorben. Es gab keinen Arzt, keine sanitären Anlagen.“
(zitiert nach: Die Story von Gottfried Weiss, http://www.deathcamps.org/belzec/romaweiss_de.html am 13.11.2021)
Die aus Norddeutschland Deportierten wurden anfangs zusammen mit einigen 100 dort bereits festgehaltenen polnischen Juden und Roma in der Scheune und dem Getreidespeicher des Gutshofs eingepfercht. Nachdem mehr und mehr Menschen in das Zwangsarbeitslager verschleppt wurden, trennte die Lagerleitung die Sinti und Roma von den übrigen Insassen und zwang sie dazu, auf einem freien Feld zu hausen. Bis zum Sommer 1940 stieg die Anzahl der aus dem Deutschen Reich nach Bełżec deportierten Sinti und Roma auf 1.140 an. Insgesamt waren dort bis zu 2.500 Angehörige der Minderheit eingesperrt. Sie mussten schwere Zwangsarbeit leisten und erhielten völlig unzureichend Nahrung und Trinkwasser. Überfüllung und mangelnde Hygiene im Lager verursachten zudem Seuchen wie TyphusTyphus Typhus ist eine hochansteckende Infektionskrankheit mit Fieber, Bauchschmerzen, Darmverstopfung und verlangsamtem Herzschlag, die durch mangelnde Hygiene entsteht. Ohne ärztliche Behandlung und Medikamente endet die Krankheit tödlich. und RuhrRuhr Ruhr oder auch Dysenterie bezeichnet eine entzündliche Erkrankung des Dickdarms bei einer hochansteckenden bakteriellen Infektion.. Viele der Insassen, darunter zahlreiche Kinder, starben infolge der erbärmlichen Lebensumstände. Nachweislich wurden mehr als 300 Leichen der Verstorbenen, mehrheitlich Frauen und Kinder, in Massengräbern verscharrt.
Für die Überlebenden Sinti und Roma wurde das Lager in Bełżec zu einem Übergangslager. SS und Zivilverwaltung ließen im Juli 1940 die Mehrheit von ihnen ins ehemalige polnische Zuchthaus Krychow am Bug in der GemeindeKommune / Gemeinde Bezeichnung für die kleinste öffentliche Verwaltungseinheit in der Organisation eines Staates. Hansk verschleppen. Dorthin war zuvor ein Vorkommando aus männlichen Sinti und Roma gebracht worden, um die Räume mit Bretterverschlägen für die Unterbringung einzelner Familien aufzuteilen. Etwa 70 bis 80 Sinti und Roma blieben im Lager Bełżec zurück und starben dort wahrscheinlich im Winter 1942/43 bei einer Typhusepidemie. Die in Krychow eingesperrten Frauen, Männer und Kinder mussten auch dort schwerste Zwangsarbeit bei der Moorentwässerung und Kanalisierung leisten. Im Verlauf des Winters starben viele von ihnen an Kälte, Unterernährung oder unbehandelten Krankheiten. Als die Wachmannschaft das Lager im Winter verließ, versuchten manche der Festgehaltenen zurück ins Deutsche Reich zu gelangen oder in Städten wie Lublin, Warschau oder Tomaszów versteckt im Untergrund zu überleben. Doch viele von ihnen wurden wieder aufgegriffen, in andere Lager und Ghettos deportiert und dort ermordet.
Quellenangaben
Literatur
Caban, Agnieszka/Koper, Ewa: Die Geschichte der Rom*nja und Sint*izze in den Arbeits- und Vernichtungslagern in Bełżec, Bełżec 2020.
Kuwałek, Robert: Das Vernichtungslager Bełżec, Berlin 2013, S. 54-57.
Zimmermann, Michael: Deportation ins „Generalgouvernement“: Zur nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma aus Hamburg (1995), in: Die nationalsozialistische Verfolgung Hamburger Roma und Sinti. Fünf Beiträge, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg, Hamburg 2006, S. 61-80. (Online verfügbar am 13.11.2021).
Internet
Bełżec Arbeitslager, deathcamps.org, am 13.11.2021.
Bełżec, Na Bister - Muzeum Tarnow, am 13.11.2021.
Deportation nach Belzec, denk.mal Hannoverscher Bahnhof, am 13.11.2021.
Die Story von Gottfried Weiss, deathcamps.org, am 13.11.2021.
Rose, Romani: „Der Abtransport ging glatt vonstatten“, landesarchiv-bw.de am 13.11.2021.